Seit fünf Tagen sind die Sternschanze und St. Pauli im Ausnahmezustand: Tägliche Kontrollen und Proteste bestimmen das Leben der BewohnerInnen des Gefahrengebiets. Im Stadtteilbeirat Sternschanze beantwortete der Leiter des Polizeikommissariats 16 am Mittwoch die Fragen der AnwohnerInnen und Beiratsmitglieder.
„Was machen Sie hier, wohin wollen Sie? Bitte weisen Sie sich aus.“ Seit der Einrichtung eines Gefahrengebiets auf St. Pauli und im Schanzenviertel am vergangenen Sonnabend sind solche Polizeikontrollen nach Einbruch der Dunkelheit für AnwohnerInnen der Viertel ein alltägliches Szenario. Im Stadtteilbeirat Sternschanze berichten am Mittwoch viele Betroffene über die Situation und kritisieren das unbefristete Gefahrengebiet. Im Laufe des Donnerstags hat die Polizei bekannt gegeben, das bisherige Gefahrengebiet aufzulösen und neue um drei Polizeiwachen einzurichten. Wie sich die Kontrollen und die Situation der AnwohnerInnen in den neuen Gefahrengebieten entwickeln wird, ist bisher nicht klar. Auch in den Bereichen des ehemaligen Gefahrengebiets soll es jedoch weiterhin verstärkte Polizeipräsenz geben.
Im Stadtteilbeirat steht der Leiter des Polizeikommissariats 16, Herr Lewandowski, den Beiratsmitgliedern und AnwohnerInnen Rede und Antwort. Erst im August 2013 wurde der Polizeibeamte hier auch zum Gefahrengebiet Sternschanze befragt, das vom 1. Juni bis zum 16. Oktober 2013 im Viertel eingerichtet worden war, um gegen Drogenkriminalität vorzugehen. Schon damals hinterfragten viele Beiratsmitglieder die Sinnhaftigkeit des Gefahrengebiets und der Kontrollen. Die Gründe und das Ziel des seit Sonnabend eingerichteten Gefahrengebietes wollen die AnwohnerInnen von Lewandowski erfahren. „Hintergrund der Einrichtung des Gefahrengebiets sind Sachbeschädigungen und Angriffe auf Polizisten, die seit November 2013 verstärkt stattfinden“, so Lewandowski. In den Abend- und Nachtstunden würden sich im Viertel regelmäßig Ansammlungen von 30 bis 70 Personen zusammenfinden, die Scheiben einwerfen und Fahrzeuge beschädigen. „Die Gruppen besitzen keinen politischen Tenor, aus unserer Sicht geht es hier um reine Gewaltausübung“, sagt Lewandowski.
Höhepunkt der Ereignisse sei ein Angriff auf einen Streifenwagen am Schlump am 12. Dezember 2013 gewesen. Eine solche Gruppe habe sich auf der Straße bewegt, die Streifenpolizisten wollten deshalb Verkehrsmaßnahmen einleiten. „Etwa 30 Personen haben dann den Streifenwagen angegriffen und die Windschutzscheibe mit dem Fuß eines Verkehrsschildes demoliert“, so der Leiter des Polizeikommissariats 16 weiter. Auch einen unbeteiligten Taxifahrer habe es getroffen. Im Anschluss sollen die Scheiben des Polizeikommissariats 16 unter der Beteiligung von etwa zehn Personen eingeworfen worden sein. Als weitere Gründe für die Einrichtung des Gefahrengebiets nennt der Polizist den Angriff auf die Davidwache am Vorabend der Demonstration am 21. Dezember sowie den schwerverletzten Beamten auf St. Pauli am 28. Dezember 2013. „Mit dem Gefahrengebiet sollen die Personen im Vorfeld überprüft und aus der Anonymität geholt werden. Wenn etwas passiert, wissen wir in Zukunft, wer vor Ort gewesen ist“, sagt Lewandowski.
Der Alltag – Vom Biomarkt in die Kontrolle
Die Zielgruppenbeschreibung im Gefahrengebiet sei allgemeiner gehalten, als beispielsweise beim vorherigen Gefahrengebiet Sternschanze. „Das bedeutet, dass auch mehr Menschen kontrolliert werden“, erläutert Lewandowski. Die Beamten hätten Erfahrungswerte, wer zu der Zielgruppe der „linken Szene“ gehöre. Viele AnwohnerInnen kritisieren dies als Willkür. AnwohnerInnen berichten von ihrem neuen Alltag im Gefahrengebiet. „Worin liegt der Sinn, dass man kontrolliert wird, wenn man mit zwei Einkaufstüten aus dem Biomarkt kommt?“, hinterfragt ein Beiratsmitglied. Auch berichten AnwohnerInnen davon, dass beim Verlassen der Wohnung kontrolliert wurden mit dem Hinweis, dass sie schon mehrfach im Gefahrengebiet gesehen worden seien. Auch habe es Fälle gegeben, in denen Aufenthaltsverbote erteilt worden sein sollen, obwohl die betroffene Person im Gebiet wohnt. „Das grenzt an einen Hausarrest“, kritisiert ein Anwohner. „Einen Hausarrest gibt es nicht, es ist nicht zulässig den Weg zur Wohnung oder zum Ziel zu verweigern“, sagt Lewandowski. Ein Aufenthaltsverbot könne schon ausgesprochen werden – dann liege jedoch mehr vor, als eine bloße Kontrolle der Personalien. „Oftmals genügt dafür bloße Widerrede oder Kritik an der Kontrolle“, sagt ein Mitglied des Beirats.
Viele AnwohnerInnen kritisieren insbesondere das Auftreten der Polizei im Gefahrengebiet. Die Montur in der gleich mehrere BeamtInnen Einzelpersonen überprüfen würden, erzeuge ein Gefühl der Unsicherheit. Viele Betroffene kritisieren dass BeamtInnen nach einer Kontrolle auch auf mehrfache Nachfrage hin, ihre Dienstnummer nicht preisgeben wollen. Auch die Forderung nach einem formalen Verfahren werde oftmals ignoriert. „Wenn ein Kollege seine Dienstnummer nicht nennt, können Sie in beim Polizeikommissariat anrufen. Mit der Uhrzeit der Kontrolle können wir die entsprechende Dienstnummer ermitteln“, so Lewandowski. Das entsprechende Aktenzeichen des Verwaltungsvorgangs könne ebenfalls erfragt werden. Viele AnwohnerInnen bezweifeln offen, dass dies so einfach möglich ist. „Das massive Auftreten der Polizei im Gefahrengebiet ist ein Bedrohungsszenario. Hier werden ganz offensichtlich Daten gesammelt, um uns zu überwachen“, sagt ein Gast aus dem Beirat Wohlwillstraße. Lewandowski versichert, dass nach Ablauf des Gefahrengebiets die Daten derer gelöscht werden, bei denen nur die Personalien überprüft worden sind. Auch dem stehen viele Beiratsmitglieder und AnwohnerInnen sehr skeptisch gegenüber.
Die Folge – Die Schere im Kopf
Die AnwohnerInnen skizzieren deutlich, wie das Gefahrengebiet ihr alltägliches Leben einschränkt. Man fange an zu überlegen, was man anzieht und was lieber nicht oder welche Gegenstände man mit sich führt, berichten viele. „Ich mache eine Ausbildung zum Koch und wollte nach der Berufsschule direkt hier zum Beirat in die Schanze. Meine Kochmesser habe ich dann lieber doch vorher nach Hause gebracht“, berichtet ein junger Mann. Lewandowski ist sich sicher, dass seine Kollegen bei einer solchen Erläuterung Verständnis gehabt hätten. „Die schlimmste Konsequenz des Gefahrengebiets ist die Schere im Kopf. Was ziehe ich an, was nehme ich mit, kann ich mein Kind mitnehmen? Dieser Zustand ist unerträglich“, sagt Andreas Gerhold, Bezirkspolitiker der Piraten.
Die Forderung – „Gefahrengebiet abschaffen, jetzt“
Die Notwendigkeit eines Gefahrengebietes wird laut Lewandowski jeden Tag erneut überprüft: „Je früher wir die Maßnahme beenden können, desto besser. Der große Aufwand ist gerechtfertigt.“ Der Stadtteilbeirat Sternschanze will mit der Herausgabe zweier Pressemitteilungen – einer zum Erhalt der Roten Flora sowie einer zur Kritik am Gefahrengebiet – zur Deeskalation der Situation beitragen. Damit reiht sich das Gremium in eine Reihe von offenen Briefen und Stellungnahmen unterschiedlichster Einrichtungen aus den Stadtteilen ein, die eine Beendigung des Gefahrengebiets fordern. Auch gibt es mittlerweile eine Online-Petition, die Bürgermeister Olaf Scholz dazu auffordert, das Gefahrengebiet aufzuheben. Über 3.500 Menschen haben die Petition am Donnerstagmittag bereits digital unterzeichnet. Auch am Mittwochabend gab es wieder Proteste gegen das Gefahrengebiet, am Dienstag demonstrierten über 600 Menschen auf St. Pauli gegen die Maßnahme.
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Steffen
10. Januar 2014 at 11:27
Hier wiederspricht soch doch etwas?
„Die Gruppen besitzen keinen politischen Tenor, aus unserer Sicht geht es hier um reine Gewaltausübung“, sagt Lewandowski.
Die Zielgruppenbeschreibung im Gefahrengebiet sei allgemeiner gehalten …
„Das bedeutet, dass auch mehr Menschen kontrolliert werden“, erläutert Lewandowski. Die Beamten hätten Erfahrungswerte, wer zu der Zielgruppe der „linken Szene“ gehöre.
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