Solidarische Hilfe für NS-Verfolgte: Pflegen, zuhören, aufklären

Politik
Frederic Zauels
@fredericzauels

Redakteur für Politik und Kultur | B.A. Politikwissenschaften, M.A. Journalistik | Kontakt: zauels@hh-mittendrin.de

Ruth Dräger hat den Holocaust überlebt. Heute benötigt die 86-Jährige Unterstützung im Alltag – bei der „Solihilfe“ wird die NS-Verfolgte gepflegt. Gedenken und Erinnern an die dunkle Vergangenheit ist dabei ein wichtiger Teil der Vereinsarbeit.

Sie gehörte zu den mehr als sechs Millionen Juden, die von den Nationalsozialisten in die Konzentrationslager deportiert wurden. Die Gestapo verschleppte die damals gerade 15-Jährige im März 1943 gemeinsam mit dem Großteil ihrer Familie in das KZ Theresienstadt.

Drei bis vier Tage musste Ruth Dräger mit ihrer Familie in Viehwaggons nach Theresienstadt reisen, Nahrung gab es keine. Als sie nachts ankamen, waren sie gezwungen auf den Fußböden zu schlafen. Im KZ wurde Dräger für die landwirtschaftliche Arbeit eingeteilt und sollte Puppen nähen, jeden Tag über zehn Stunden.

Solidarische Hilfe im Alter:
Die „Solidarische Hilfe im Alter“ ist ein in ganz Hamburg aktiver Pflegedienst. Sie hat den Anspruch, ehemalige NS-Verfolgte und Menschen, die politisch und sozial verfolgt wurden, zu unterstützen. Der Verein wurde 1996 im Anschluss an die neu eingeführte Pflegeversicherung gegründet, die auch ehemaligen NS-Verfolgten zugänglich gemacht werden sollte. Heute arbeiten bis zu 30 Menschen bei der Solihilfe, darunter auch zwei Freiwilligendienste, die mit der KZ Gedenkstätte Neuengamme geteilt werden. Mehr Informationen finden Sie hier 

Viel schlimmer waren aber die psychischen Methoden der Gestapo, welche die Häftlinge zur Todesangst trieben.Von halb fünf Uhr morgens bis halb zwölf in der Nacht ließen sie die KZ-Insassen auf einer Moorweide zusammengetrieben stehen, jederzeit hätten die Wachmänner sie von ihren Türmen aus erschießen können, erzählt Dräger. „Wir haben dort gestanden wie die Heringe“, sagt sie. An diesem Tag sei zwar niemand getötet worden, doch keiner habe gewusst wie es weitergeht, was die Nationalsozialisten mit ihnen vorhaben. Zwei Jahre lang konnte Dräger sich niemandem anvertrauen, niemandem ihr Herz ausschütten. Trotzdem habe sie immer an eine Rückkehr nach Deutschland geglaubt. Als dies mit dem Kriegsende Realität wird, hat sie dennoch einen schwierigen Start in der alten Heimat, in der sie zunächst nur von der jüdischen Gemeinde unterstützt wird.

Dräger kam dann zunächst bei ihrem Großvater unter, zu fünft lebten sie in zwei Zimmern. Drei Jahre später erhielt sie eine Wohnung in einem ehemaligen jüdischen Altersheim, das nun für Rückkehrer umfunktioniert wurde. Gedanken daran, das Land zu verlassen, in dem sie verfolgt wurde, hegte sie im Gegensatz zu ihrer nach Kalifornien ausgewanderten Schwester nie.

Mittlerweile ist die 86-Jährige eine der letzten lebenden NS-Verfolgten und lebt noch immer in Hamburg. Heute benötigt sie Pflege. Altenpflege, die zwei Vereine in Hamburg in Zusammenarbeit übernommen haben: Zum einen die „Solidarische Hilfe im Alter“ (kurz: Solihilfe), zum anderen der Verein für „Psychosoziale Arbeit mit Verfolgten“. Dräger kam zur Solihilfe, weil bereits Bekannte aus der jüdischen Gemeinde dort in Pflege waren.

Zwei solidarische Vereine kümmern sich um die Altenpflege ehemaliger NS-Verfolgter

Auf den ersten Blick mag die Solihilfe ein Pflegedienst wie die 320 anderen in Hamburg sein. Doch solidarisch bedeutet in diesem Fall auch politisch: Diesen Anspruch hat der 1996 gegründete Verein, der sich selbst in einer antifaschistischen Tradition sieht und somit einmalig Deutschland ist. Gepflegt werden vor allem Verfolgte des Nationalsozialismus sowie deren Kinder und Angehörige. „Es ist eine politische Welle, die da entstanden ist“, sagt Gründerin Petra Schondey. Dabei wird versucht, auf die Vergangenheit der Betroffenen einzugehen und den richtigen Umgang mit ihrer speziellen Situation zu finden.

Wer Ruth Dräger mit ihrem Pfleger Marc zusammen erlebt, spürt, dass der Anspruch der „Solihilfe“ auch umgesetzt wird: Marc hört ihr zu, kann ihre Probleme verstehen, ist wegen ihres Hintergrunds sensibilisiert. Die Pflege soll der Lebenslage angemessenen sein, die sich aus der politischen und sozialen Verfolgung ergibt. Gerade weil diese Form der Fürsorge zusammen mit psychischer Hilfe angeboten wird, ist sie etwas Besonderes.

Psychosoziale Arbeit mit Verfolgten:
Mitglieder und ehrenamtliche MitarbeiterInnen in Verfolgtenverbänden gründeten 1996 den Verein „Psychosoziale Arbeit mit Verfolgten“, der ehemaligen NS-Verfolgten sowie ihren Angehörigen und FreundInnen psychologische und psychosoziale Hilfe und Beratung anbietet. Mehr Informationen finden Sie hier
So ist die Solihilfe nicht nur Pflegedienst, sie ist auch Alltag und Alltagsshilfe. Einmal im Monat tauschen sich die PatientInnen, MitarbeiterInnen und Freunde der Vereine in einem Begegnungscafé aus. Weil einige der NS-Verfolgten ihr Vertrauen in den Staat verloren haben, unterstützt und begleitet die Solihilfe die Menschen bei Behördengängen. Manche fürchten sich sogar davor, staatliche Zuschüsse in Anspruch zu nehmen.

Während am 9. November in ganz Deutschland der Mauerfall gefeiert wurde, begleitete die Solihilfe die NS-Verfolgten zur Synagoge. Gedenken und Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus ist ein wichtiger Teil der Vereinsarbeit. Biografisches Material der Betreuten soll gesammelt, bearbeitet und vermittelt werden. Eine der Betreuten übernahm sogar bis vor kurzem Führungen im Konzentrationslager Fuhlsbüttel.

Die beiden Vereine leisten so nicht nur individuelle Pflege. Sie leisten ebenso Aufklärung.

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