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Interview: „In Hamburg gibt es keine Armutszuwanderung“

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Kristin Brueggemann

Geboren am 31.01.1985 in Hannover, Magister Politikwissenschaft, Journalistik und Osteuropastudien an der Uni Hamburg, diverse journalistische Praktika u.a. bei NDR Info

Der DGB hat die 1. Mai Demo dieses Jahr unter das Motto „Arbeiten in Europa“ gestellt und zu mehr Solidarität unter den europäischen ArbeitnehmerInnen aufgerufen. Dass von Solidarität in Europa aber noch lange keine Rede sein kann, zeigt sich ganz konkret an jedem Werktag in Hamburg Mitte – auf dem Stübenplatz in Wilhelmsburg.

Hier spielt sich eine Kehrseite der europäischen Mobilität ab: Ausbeutung im Niedriglohnsektor. Auf dem so genannten „Arbeiterstrich“ auf dem Stübenplatz in Wilhelmsburg sammeln sich die modernen Wanderarbeiter und warten täglich auf einen neuen Job. Es sind hauptsächlich aus Bulgarien stammende Männer, die auf eine Beschäftigung als Tagelöhner – meist auf dem Bau – hoffen. Die Stundenlöhne liegen meist nicht höher als zwei oder drei Euro. Wir haben mit Rüdiger Winter gesprochen, Projektleiter bei der von Gewerkschaften getragenen Organisation Arbeit und Leben. Winter fordert neue Gesetzesinitiativen und Kontrollen vom Senat, um die skrupellosen Arbeitgeber haftbar zu machen.

Das Gespräch führte Kristin Brüggemann

Mittendrin: Herr Winter, wer sind die Menschen, die jeden Morgen am Stübenplatz in Wilhelmsburg stehen?

Jürgen Winter: Das sind ungefähr 50-60 Männer, hauptsächlich aus Bulgarien. Die sind aber nicht erst seit Anfang 2014 da, [Anmerkung der Redaktion: Seit dem 01.01.2014 gilt die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland auch für Bulgarien und Rumänien] sondern teilweise schon seit 2007 zugewandert.

Mittendrin: Die Warnungen von CDU und CSU vor einer massiven Armutszuwanderung durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit waren also unbegründet?

Winter: Es gibt keine Armutszuwanderung in Hamburg. Die Rumänen und Bulgaren haben keinen Anspruch auf Hartz IV, wenn sie nicht mindestens sechs Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Ich warne ausdrücklich davor, dieses Thema zu dramatisieren oder es für Wahlkampfzwecke zu missbrauchen. Was wir in Wilhelmsburg sehen, ist nur ein kleiner Teil des Problems. Die meisten Wanderarbeiter gehen sowieso nach Italien oder Spanien.

Mittendrin: Wie kam es zur Entstehung des so genannten „Arbeiterstrichs“?

Winter: In der Nähe waren Obdachlosenunterkünfte, die allerdings nicht mehr genügend Kapazitäten hatten. So kam es in einigen Fällen dazu, dass der Stübenplatz zu einem Treffpunkt wurde. Für viele Bulgaren war außerdem der Kontakt zur türkischen Gemeinschaft wichtig, in Wilhelmsburg gibt es die entsprechenden Einkaufsmöglichkeiten und eine sprachliche Nähe.

Mittendrin: Unter was für Bedingungen arbeiten die Migranten?

Winter: Die bulgarischen und rumänischen Beschäftigten arbeiten meist auf Selbstständigenbasis, häufig als Tagelöhner. Es kommt vor, dass die Stundenlöhne nur bei 2,50 Euro liegen. Davon müssen die Beschäftigten dann auch noch überteuerte Mieten von über 300 Euro zahlen. Der Arbeitgeber ist oft gleichzeitig der Vermieter und zieht die überteuerte Miete direkt vom Gehalt ab. Wenn die Arbeiter ihren Job verlieren, verlieren sie also auch gleich ihre Wohnung. Sie erledigen körperlich schwere, schmutzige und belastende Arbeiten, haben aber keinen Unfall- und Versicherungsschutz.

Mittendrin: Sie bieten eine Beratung für die betroffenen Beschäftigten an. Wie sieht ein typischer Fall aus ihrer täglichen Arbeit aus?

Winter: In den letzten zwei Jahren haben wir über 2000 Personen beraten, davon sind gut ein Drittel Bulgaren. Bei den meisten Beratungen geht es um das Thema Lohn. Häufig haben wir Fälle aus dem Reinigungsgewerbe, vor allem in der Hotelbranche. Hier liegt der Tariflohn eigentlich bei neun Euro, de facto werden die Zimmermädchen aber pro Zimmer bezahlt. So kommen sie im Schnitt auf einen Stundenlohn von drei Euro, weil die ganzen Vorbereitungstätigkeiten nicht einberechnet werden. Die Arbeitskleidung wird ihnen auch noch vom Lohn abgezogen. Einer Mitarbeiterin wurde zum Beispiel fristlos gekündigt, nachdem sie ihre Schwangerschaft bekanntgegeben hatte. Es ist schwierig, die Hotelbetreiber für diese eindeutigen Rechtsverletzungen strafbar zu machen, weil sie die Reinigung an einen Subunternehmer ausgelagert haben. Gerade das Reinigungsgewerbe nutzt die Hilflosigkeit der ausländischen ArbeitnehmerInnen konsequent aus.

Mittendrin: Seit zwei Jahren leiten Sie den Runden Tisch „Fairness und klare Regeln auf dem Hamburger Arbeitsmarkt“, an dem verschiedene Behörden, Kammern, Unternehmensverbände und Gewerkschaften sowie die Arbeitsagentur teilnehmen. Was schlägt der Runde Tisch vor?

Winter: Der Runde Tisch ist ein informelles Beratungsgremium und kann deshalb nur Handlungsempfehlungen an die Politik geben. Was wir wollen, sind vor allem Gesetzesinitiativen, die die Arbeitgeber in die Pflicht nehmen. Die Hoteliers dürfen beispielsweise die Verantwortung nicht an die Subunternehmer abgeben, sondern müssen selber dafür sorgen, dass der Mindestlohn gezahlt wird. Hier muss es auch strengere Kontrollen geben. Außerdem wünschen wir von Arbeit und Leben eine hamburgweite Initiative „Land der fairen Arbeit“, wie sie Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen schon vorgelegt haben. So könnten wir die vorhandenen Maßnahmen bündeln und mehr Aufmerksamkeit für das Thema erzeugen.

Mittendrin: Was macht Arbeit und Leben konkret, um den bulgarischen Wanderarbeitern in Wilhelmsburg zu helfen?

Winter: Gemeinsam mit der Arbeitsagentur veranstalten wir am 24. Mai auf dem Rotenhäuser Feld ein großes Nachbarschaftsfest unter dem Motto „Bulgarien in Wilhelmsburg“. Das Ziel der Veranstaltung ist nicht nur, die AnwohnerInnen miteinander in Kontakt zu bringen, sondern auch, die Menschen in reguläre Arbeitsverhältnisse zu bringen. Dafür wird die Arbeitsagentur eine Jobbörse anbieten. Wir beraten direkt vor Ort, beispielsweise zu den Themen Lebensunterhaltssicherung, Wohnungssuche in Hamburg oder Arbeit auf Selbstständigenbasis.

 

 

Foto: Tobias Johanning

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