Kinderschutzbund im Interview: Junge Flüchtlinge brauchen Vorbilder

Sie sind in einem fremden Land auf sich allein gestellt: Immer mehr unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge kommen nach Hamburg. Unterstützung bietet der Kinderschutzbund durch die Vermittlung privater Vormünder. Im Gespräch mit Mittendrin erklärt die Sozialpädagogin Sevil Dietzel, welche Aufgaben ein Vormund übernimmt – und wie eine angemessene Betreuung junger Flüchtlinge aus Sicht des Vereins aussehen sollte.

Mittendrin: Frau Dietzel, sie bilden Hamburger zu ehrenamtlichen Vormündern für Flüchtlinge aus. Wie kann ein Vormund geflüchteten Menschen bei der Integration helfen?

Sevil Dietzel: Ein Vormund ist der wichtigste Ansprechpartner im Alltag und erfüllt eine Vorbildfunktion: Er zeigt, wie man hier in Hamburg lebt und überlebt. Vormünder vermitteln weitere Kontakte zu Freunden, Verwandten, Arbeitskollegen, die wiederum Wege in der Ausbildung ebnen oder Kontakte zu heimischen Jugendlichen herstellen können. Auch nach Erreichen der Volljährigkeit sind die Vormünder oft noch wichtige Ansprechpartner und halten den Kontakt. Oft ist diese Unterstützung dann noch einmal besonders wichtig.

In der Regel bestellt das Jugendamt einen Amtsvormund für Flüchtlinge unter 18 Jahren – reicht das nicht aus?

Dietzel: Ein Amtsvormund betreut bis zu 50 Minderjährige gleichzeitig und ist daher nicht mit einem privaten Vormund zu vergleichen, der eine enge, persönliche Beziehung zu seinem Mündel eingeht. Zwar sieht das Gesetz vor, ehrenamtliche Vormünder, die sich intensiver kümmern, gegenüber Amtsvormundschaften zu bevorzugen – trotzdem hat nur ein geringer Teil der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Hamburg einen Privatvormund.

Woran liegt das? 

Dietzel: Unter anderem, weil nicht genügend Mittel für die Ausbildung von Vorbildern bereitstehen: Beim Kinderschutzbund arbeiten ein Kollege und ich auf der Basis einer halben Stelle, finanziert von der Sozialbehörde. Gemeinsam begleiten wir 65 Privatvormünder und ihre Mündel. Unsere Kapazitäten sind damit voll ausgeschöpft, obwohl wir auch weitere Anfragen noch bedienen. Mit einer besseren Finanzierung könnten wir wesentlich mehr Privatvormundschaften initiieren. Es ist unverständlich, dass unser Projekt so wenig Zuwendungen erhält, zumal es die gesetzliche Verpflichtung zur Vormundschaft gibt und die Ehrenamtlichen ihre Tätigkeit hervorragend ausfüllen.

Ein privater Vormund übernimmt viel Verantwortung – wird diese Aufgabe in Hamburg denn überhaupt nachgefragt?

Dietzel: Allerdings, das Interesse an unserem Projekt „Vormundschaften“ ist in den letzten Monaten deutlich gestiegen. Seit dem Herbst melden sich pro Woche zwei Hamburger, die Vormund für Flüchtlinge werden wollen. Nahezu alle dieser Ehrenamtler sind berufstätig und typischerweise als Rechtsanwälte, Lehrer, Journalisten und Pädagogen tätig. Dabei betreiben wir kaum Werbung – die Ehrenamtlichen kommen aus eigenem Antrieb, haben etwa durch Freunde oder Medien von unserem Angebot erfahren oder sie leben in der Nachbarschaft einer Flüchtlingsunterkunft.

In Bremen sollen minderjährige Flüchtlinge, die Straftaten begangen haben, in einem geschlossenen Heim untergebracht werden. Auch der Hamburger Landesverband der Polizeigewerkschaft plädiert für eine geschlossene Unterbringung. Was sagen sie dazu?

Dietzel: Die geschlossene Unterbringung delinquenter Jugendlicher ist keine Lösung. Vielmehr ist aus pädagogischer Sicht davon auszugehen, dass sich bei einer derartigen Unterbringung und Isolation Probleme verstärken. Bei jungen Flüchtlingen können zudem schwere psychische Belastungen vorliegen. Es bedarf also entsprechender individueller Lösungen mit besonderen Bezugspersonen und Psychotherapie und begleitender Ausbildung und Beschulungsmaßnahmen.

Welche Herausforderungen ergeben sich im Umgang mit jungen Flüchtlingen aus pädagogischer Sicht?

Dietzel: Die Jugendlichen haben lange Fluchtwege hinter sich, die Wochen und Monate, teilweise Jahre dauern. Kommen sie dann hier an, haben sie sich über einen längeren Zeitraum selbst versorgt, sind somit in lebenspraktischen Angelegenheiten sicher einer Vergleichsgruppe deutscher Jugendlicher weit voraus. Zusätzlich aber sind sie geprägt von schlimmen Erlebnissen im Herkunftsland oder auf der Flucht, Beziehungsabbrüchen zu Freunden und der Familie. Somit zeigt sich gerade in den ersten Monaten des Aufenthaltes hier, dass einige der Jugendlichen Probleme mit dem Einhalten von Regeln haben und auch damit, plötzlich wieder von anderen Menschen Anweisungen anzunehmen. Darüber hinaus sind sie in ihrer Beziehungsfähigkeit häufig eingeschränkt, es bedarf mehrerer Anläufe und viel Geduld um eine stabile, tragfähige Beziehung zu ihnen aufzubauen. Dies sollte immer in angemessener Beteiligung geschehen und nicht an Bedingungen geknüpft sein.

265 minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge kammen allein im ersten Quartal nach Hamburg, die Stadt schafft nun neue Unterkünfte. Wie sollte eine angemessene Unterbringung aus ihrer Sicht aussehen?

Dietzel: Wir befürworten eine wesentlich kürzere Verweildauer in den Erstaufnahmeeinrichtungen, aktuell beträgt diese fast ein Jahr, weil es zu wenig Plätze in den betreuten Jugendwohnungen gibt. In den Erstversorgungseinrichtungen können aufgrund des Durchlaufcharakters kaum hilfreiche, entwicklungsfördernde Beziehungen geknüpft werden, die Jugendlichen können nicht „wurzeln“. Auch können kleine Gruppenstärken, bei ausreichendem Betreuungsschlüssel in den weiterversorgenden Einrichtungen und fachlich gut ausgebildetem Personal sich positiv auf die Entwicklung auswirken.

Frau Dietzel, vielen Dank für das Gespräch.

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