Überlastung, schlechte Kommunikation und organisatorische Fehler – der Prüfbericht zum gewaltsamen Tod der kleinen Yagmur aus Billstedt weist den Jugendämtern eine hohe Mitschuld zu. Verschiedene Warnhinweise, die auf Misshandlungen im Elternhaus hindeuteten, sind ignoriert worden.
Mit Spannung wurde der Bericht der Jugendhilfeinspektion erwartet. Am 18. Dezember war die dreijährige Yagmur in der Wohnung ihrer Eltern in Folge eines Leberrisses innerlich verblutet, Ermittlungen zufolge ist der eigene Vater für ihren Tod verantwortlich, die Mutter griff nicht ein. Die Eltern befinden sich derzeit in Untersuchungshaft.
Seit dem Tod des Mädchens blieben einige Fragen zum Hintergrund der Tragödie offen: Unklar war etwa, warum das Mädchen, das seit seiner Geburt von verschiedenen Jugendämtern betreut wurde, trotz Hinweisen auf Gewalt in der Familie bei ihren Eltern bleiben musste – und wer für diese Entscheidung veranwortlich ist.
Gestern wurde nun ein rund 40 Seiten starker Prüfbericht vorgelegt, welcher der Mittendrin-Redaktion vorliegt. Die Ergebnisse machen deutlich, dass ein rechtlich korrektes Vorgehen in Sozialbehörden nicht alles ist – gerade bei der individuellen Betreuung von Kindern und ihren Familien ist besondere Aufmerksamkeit und Intuition gefragt. So seien bei der Bearbeitung des Falls zwar alle Rechtsvorschriften und Dienstanweisungen eingehalten worden. Darüber hinaus stellt der Bericht jedoch Verstöße gegen „allgemein anerkannte Grundsätze guter Sozialarbeit“ fest.
Der Fall Yagmur – Was ist passiert?
Bereits unmittelbar nach ihrer Geburt im Oktober 2010 war das dreijährige Mädchen auf Wunsch der leiblichen Mutter bei einer Pflegefamilie untergebracht worden. Der Kontakt zu den Eltern bestand weiterhin, jedoch häuften sich bereits ab Mai 2011 erste Hinweise auf familiäre Gewalt: Nach den Besuchen bei ihren Eltern wurden bei Yagmur blaue Flecken und Schürfwunden festgestellt, über deren Ursache die leibliche Mutter keine eindeutigen Aussagen machen konnte. Sie wies die Schuld von sich und verwies auf andere Familienmitglieder, in deren Obhut sich das Kind bei den Besuchen zeitweilig befunden hätte. Aus den Aufzeichnungen verschiedener SachbearbeiterInnen geht hervor, dass das Kind scheinbar Angst hatte, von den Eltern abgeholt zu werden und darüber hinaus im Laufe der Zeit immer stärkere Verletzungen aufwies: So wurden bei Yagmur Anfang 2013 eine Bauchspeicheldrüsenentzündung und ein Schädelhirntrauma diagnostiziert, das eine Notoperation erforderlich machte. Das zuständige rechtsmedizinische Institut stellte daraufhin Anzeige wegen Kindesmisshandlung gegen Unbekannt, da die Verletzungen kontinuierlich über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden sein mussten. Nun nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen auf, wobei die Kindeseltern und die Pflegemutter gleichermaßen unter Verdacht standen. Während sich die Pflegemutter bei der Aufarbeitung des Falls kooperativ und einsichtig gezeigt habe, werden die leiblichen Eltern in dem Bericht als emotionslos und desinteressiert beschrieben.
Da Yagmurs Pflegemutter in einer Email an das Jugendamt eingestanden hatte, dass die Verletzungen möglicherweise von ihr stammen könnten, weil sie das Kind einmal geschüttelt habe, entschied eine Mitarbeiterin des Jugendamts Eimsbüttel, das Kind in die Obhut der leiblichen Eltern zu übergeben. Dabei wurde zwar Rücksprache mit einer Familienrichterin gehalten, das Verfahren der Staatsanwaltschaft war zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht abgeschlossen.
Durch einen Umzug der Familie lag die Zuständigkeit für den Fall ab dem 1. Juli 2013 nicht mehr beim Bezirksamt Eimsbüttel, sondern beim Jugendamt Hamburg-Billstedt. Durch die Übergabe des Falls habe sich „die Bearbeitungstiefe und der Dokumentationsstand erheblich geändert“, so heißt es im Bericht der Inspektion. Was bei dem Übergabegespräch von den SachbearbeiterInnen wie besprochen wurde, sei heute nicht mehr zu klären – allerdings sei der gesamte Fall in den Akten dokumentiert worden und hätte später jederzeit eingesehen werden können. Denn gerade wegen des noch laufenden Ermittlungsverfahrens wegen Kindesmisshandlung hätte Yagmur eigentlich besonders streng überwacht werden müssen – doch im Jugendamt Mitte wechselten die Zuständigkeiten, eine Sachbearbeiterin wurde krank und durch eine junge, neue Mitarbeiterin ersetzt, die den Fall offenbar nicht verstand.
Als Yagmur dann mehrmals unentschuldigt in der Kita fehlte, schrillten nicht etwa die Alarmglocken: Es wurde kein Hausbesuch unternommen, mit der Kindersmutter wurde nur per Telefon kommuniziert.
Nachdem ein rechtsmedizinisches Gutachten eindeutig belegen konnte, dass die Pflegemutter nicht an den Verletzungen des Kindes schuld sein konnte, verfügte die Staatsanwaltschaft im November 2013 die Einstellung des Verfahrens, da „allen Beteiligten keine Täterschaft nachzuweisen“ sei. Die gerichtliche Ermittlungsakte wurde dem Jugendamt Mitte anschließend übermittelt, dort wurde sie jedoch offenbar nicht näher eingesehen.
Überlastung und fehlende Qualifikation in den Jugendämtern
Wie aus dem Bericht der Jugendhilfeinspektion hervorgeht, herrscht im Jugendamt Hamburg-Billstedt derzeit eine „schwierige Personal- und Belastungssituation“ – das Amt sei räumlich für ein Gebiet mit vielen sozialen Problemlagen zuständig, außerdem seien durch einen ständigen Personalwechsel in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich viele junge Mitarbeiter mit relativ wenig Berufserfahrung und nicht ausreichender fachlicher Qualifikation in der Behörde beschäftigt. Diese schwierige Arbeitssituation sei zwar bekannt, allerdings habe die Abteilungs- und Regionalleitung der Behörde zuvor nicht auf eine derartige Überlastungssituation hingewiesen.
Der Fall Yagmur ist nun offenbar die Folge einer ganzen Reihe von Fehlern und Versäumnissen in beiden Jugendämtern. Grundlegende Verfehlungen sieht die Jugendhilfeinspektion in der fehlenden Kommunikation in und zwischen den Jugendämtern und einer mangelhaften Dokumentation des Falls, sowie in der Überforderung der Mitarbeiter. Diese wären den Kindeseltern allzu leichtgläubig begegnet, während die „notwendige Sensibilität für das Wohlergehen des Kindes schlicht abhanden gekommen“ war.
Politische Konsequenzen ziehen
Christiane Blömeke, kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Grünen, sieht in dem Bericht einen Beleg für strukturelle Probleme in der Jugendamtsarbeit: „Die Ursachen für das Versagen einzelner Mitarbeiter sind Zeitmangel, Personalfluktuation und häufige Wechsel in den Zuständigkeiten“, sagt sie. Auch Mehmet Yildiz, von der Linken, sieht die Problematik nicht bei einzelnen MitarbeiterInnen, sondern beim System. Er fordert eine unabhängige Überprüfung des gesamten Jugendhilfesystems. Unter den gegenwärtigen Bedingungen könne nicht fachlich korrekt gearbeitet werden.
Auch die Jugendhilfeinspektion empfiehlt in ihrem Bericht die Entwicklung und Einführung eines verbindlichen Personalbemessungssystems in den Sozialämtern, sowie ein hochqualitatives Fortbildungsangebot für die MitarbeiterInnen.
Schon einmal hatte der Tod eines Kindes das Bezirksamt Hamburg-Mitte unter Druck gesetzt: 2012 starb die elfjährige Chantal an einer Überdosis des Heroin-Ersatzstoffs Methadon, den ihre drogensüchtigen Pflegeeltern konsumierten. Auch in diesem Fall wurden dem Jugendamt schwere Fehler bei der Aufsicht der Familie vorgeworfen.
Nora
4. Februar 2014 at 09:15
Wenn ich das „Parlamentarischen Untersuchungsausschuss“ höre oder lese, werd ich noch wütender.
Ich war schon vor 30 Jahren Tagesmutter und es ist das gleiche passiert. Immer und immer wider. Wie bitte kann das sein, in all den Jahren hat man nichts dazu gelernt???? Kann das wirklich sein? Ich denke nein!! Hier wird uns wider der gleiche Einheitsbrei vorgesetzt um die Mehrheit zu beruhigen. Wieviel Kinder wohl in den letzten 30 Jahren zu Tode gekommen oder Mißhandelt wurden ohne das jemand etwas wirklich endscheidendes gefunden hätte dies zu unterbinden. Ich bin sehr wütend darüber.