Zu Weihnachten erzählen wir eine klassische Weihnachtsgeschichte neu. An allen drei Weihnachtstagen werden wir einen Teil veröffentlichen. Im dritten Teil begleiten wir den Bürgermeister bis in die Zukunft und erfahren ob der Plan der Geister funktioniert.
Frei nach Charles Dickens
Der Geist nahm den Bürgermeister an der Hand und zog ihn mit sich in ein großes Gebäude am Ende der Gasse. Im Inneren saßen einige hundert Menschen teils an Holztischen, teils auf dem blanken Fußboden. In der Ecke des Raumes stand ein kleiner Weihnachtsbaum. An einem der Holztische wurde Suppe in Plastiktellern zusammen mit einigen alten Brötchen, die ein Bäcker gespendet hatte ausgegeben. „Warum hast du mich hierher gebracht, wo du doch der Geist der gegenwärtigen Weihnacht bist“, fragte der Bürgermeister. „Es gibt in der Stadt schönere Orte, um die Feiertage zu genießen. Zum Beispiel die festlich geschmückte Innenstadt oder bei der Familie zuhause.“ Der Geist machte eine eine ausladende Bewegung mit seinem kräftigen Arm und sprach:“Ein Zuhause haben diese Menschen hier nicht. Sie leben auf der Straße und haben hier nur für den Winter eine notdürftige Unterkunft gefunden.“ Der Bürgermeister sah sich eine Weile um. Dann lächelte er und sagte:“Ja, aber siehst du nicht, dass hier der Beweis ist, wie gut ich diese Stadt regiere? Wer eine Unterkunft sucht, bekommt auch eine. Niemand muss hungern. Wo es das Gesetz zulässt helfen wir gerne. Es kann natürlich niemand erwarten, dass wir ihm einen Palast bezahlen.“ Etwas nachdenklich murmelte er dann noch: „Das es so viele Hilfsbedürftige gibt hätte ich nicht gedacht.“ Der Geist, der den Bürgermeister gehört hatte, nickte zufrieden und klatschte in die Hände. Erneut erfasste ein eisiger Windhauch den Bürgermeister und die Notunterkunft begann zu verschwimmen.
Als der Sturm sich verzogen hatte fand der Bürgermeister sich in seinem Haus wieder. Es war jedoch längst nicht mehr so prächtig, wie er es in Erinnerung gehabt hatte. Die Möbel waren verstaubt, die Vorhänge zugezogen und auf dem Schreibtisch lag ein großer Stapel Zeitungen. Einige der Blätter waren zerknüllt und zerrissen worden und lagen im ganzen Zimmer verteilt. Mit einem Mal erblickte der Bürgermeister einen Mann in Frack und Zylinder, der sich schwungvoll aus dem Lehnsessel erhob, in dem der Bürgermeister am Abend zuvor gesessen hatte. „Seien sie mir gegrüßt Herr Bürgermeister, ich…“, stockte der Mann und nahm eine der Zeitungen vom Tisch. „Ich vergesse immer welche Zeit wir gerade haben. Sehr verwirrend der Geist der zukünftigen Weihnachten zu sein. Also, seien sie mir gegrüßt werter Herr“, sagte der Geist und reichte dem Bürgermeister die Zeitung. „Erdrutschsieg“ stand dort auf der Titelseite. Der Bürgermeister nahm das Blatt und las weiter: „Bürgermeister vernichtend vernichtend geschlagen – Rücktritt von allen Parteiämtern gefordert.“ Panisch stürzte der Bürgermeister auf den Tisch zu, nahm eine Ausgabe nach der anderen in die Hand und überflog die Schlagzeilen: „Parteifreunde distanzieren sich“, „Diese Politik war falsch“ und „Untersuchungsausschuss gefordert“ stand dort unter anderem. Der Bürgermeister strauchelte zurück und wollte nicht mehr weiter lesen. Während er durch das Zimmer taumelte, begann der Geist durch den Raum zu tanzen und schallend zu lachen. Ein Windstoß riss die Fenster auf und wirbelte die Zeitungen durch den Raum. Langsam verschwand das Zimmer wieder. Nur das Lachen des Geistes dröhnte dem Bürgermeister noch immer in den Ohren, als er sich völlig verschwitzt und zitternd wieder auf seinem Bett sitzend wiederfand.
Entsetzt von dem was er gesehen hatte, stürzte der Bürgermeister zum Fenster, durch das die ersten Sonnenstrahlen des ersten Weihnachtstages schimmerten. Auf der Straße erblickte er einen Jungen, der bereits zur frühen Morgenstunde durch die Gassen tollte. „Welcher Tag ist heute?“, rief der Bürgermeister dem Jungen zu. „Es ist der erste Weihnachtstag“, antwortete der Junge. Glücklich rief der Bürgermeister aus: „Dann ist es noch nicht zu spät! Ich kann noch alles ändern und diese schrecklichen Zeitungen werden nie erscheinen.“ In Windeseile lief er zurück in sein Zimmer und bekleidete sich. Dann eilte er in das Rathaus und ging ans Werk. In den kommenden Monaten veranlasste der Bürgermeister ein beispielloses Reformprogramm. Wohnungen für Obdachlose wurden gebaut, Sozialprogramme entwickelt und Gelder für Bildungsprojekte mobilisiert. An allen Vorhaben wurden die Bürger der Stadt befragt, die in Beteiligungsgremien in der ganzen Stadt ein dauerhaftes Mitspracherecht, bei allen Angelegenheiten bekamen, die sie betrafen. Wer immer in die Stadt kam und um Hilfe bat, fand bei dem Bürgermeister Gehör. Die folgenden Wahlen brachten dem Stadtvater Sieg nach Sieg, so dass er weiter regieren und seine Reformen umsetzen konnte. Irgendwann jedoch war der Bürgermeister am Ende seiner Möglichkeiten angelangt und benötigte die Hilfe seiner Landesherrin. So eilte er in die Hauptstadt und trug seine Anliegen und Reformprojekte vor. Er erklärte wie gut all das in der Stadt funktioniert habe und dass er nun auf umfassende Reformen im ganzen Land hoffe. Die Landesherrin hörte sich seinen Vortrag an. Dann erhob sie sich hinter ihrem Schreibtisch und wies dem Bürgermeister den Weg zu Tür. „Humbug“ hörte der Bürgermeister sie noch sagen, bevor die schwere Tür zu ihrem Büro zufiel.
Den Anfang der Geschichte verpasst? Hier geht es zum ersten und zweiten Teil.
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