Containern in Hamburg: Ein gefundenes Fressen

Aus Protest gegen die Wegwerfgesellschaft versorgen sich „Mülltaucher“ mit Lebensmitteln aus dem Abfall. Auch in Hamburg ist eine kleine Szene an Aktivisten entstanden – Hamburg Mittendrin hat sie einen Abend lang begleitet.

Abends kurz nach zehn, irgendwo in Hamburg: Ich treffe mich mit Mia, Jalou und Ben* an einer U-Bahn-Station. Ausgerüstet mit Rucksack, Plastiktüten und Taschenlampe machen wir uns auf den Weg zum Supermarkt – doch unser Ziel sind nicht die prallgefüllten Regale im Laden. Wir steuern direkt auf den Hinterhof zu. „Da hinten“ – Mia deutet auf zwei große Mülltonnen, die unscheinbar hinter einer kleinen Discounter-Filiale stehen. Vorsichtig schleicht sie sich heran, schiebt den Deckel der Tonne hoch und leuchtet ins Innere: Frische Blumensträuße, Bananen und Broccoli liegen, teilweise noch gut verpackt, ganz oben in der Tonne. Ich bin überrascht, Ben wirkt angesichts dieser Ausbeute enttäuscht: „Schon wieder Bananen, davon gab’s gestern schon so viele!“

11 Millionen Tonnen Müll

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Nein, es ist nicht die erste „Müll-Safari“ dieser kleinen Gruppe, die ich heute Abend auf ihrer Tour begleiten darf. Regelmäßig sind die drei jungen Leute in ganz Hamburg unterwegs, mal mit dem Rad, mal wie heute mit dem Auto, mal auch einfach zu Fuß. Sie gehen „containern“, suchen nach Ladenschluss Essen im Müll. Klingt eklig?

Es ist eine Art des Konsums, die zunächst befremdlich klingen mag – und doch handelt es sich um ein Phänomen, das sich in vielen deutschen Großstädten ausgebreitet hat. Besonders unter jungen Leuten ist das „Containern“ beliebt. Ihnen geht es nicht in erster Linie um die finanzielle Ersparnis: Die Suche im Müll wird zum Protest gegen die Konsum- und Wegwerfgesellschaft – eine System, das im Überfluss produziert, während anderswo Menschen Hunger leiden.

Auch Jalou geht es um’s Prinzip:  „Wenn man sieht, was so alles weggeschmissen wird, kommen einem schon beinahe die Tränen, vieles ist noch verwertbar.“ Die 22-jährige Auszubildende ist durch einen Freund zum Containern gekommen und nun mehrmals pro Woche unterwegs. „Besonders häufig landen Obst und Gemüse im Müll, da sind die Kriterien ganz streng.“ Sie hebt eine Staude Bananen hoch, die wenige braune Druckstellen aufweisen. „Das reicht schon, um das Obst wegzuschmeißen.“

Tatsächlich hat Lebensmittelverschwendung in den industriellen Ländern dramatische Ausmaße angenommen: Allein in Deutschland landen jedes Jahr elf Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll, drei Fünftel davon in Privathaushalten, 82 Kilogramm pro Einwohner. Das hat eine Studie der Universität Stuttgart im Auftrag des Bundesverbraucherministeriums im Frühjahr 2012 ergeben. Auch Ben, 27, hat schon einige Erfahrung im Containern. Regelmäßig ist er in Berlin und Hamburg unterwegs. „In Hamburg ist das Ganze weniger bekannt“, erzählt er mir, in der Hauptstadt sei Containern beliebter und die Konkurrenz dementsprechend größer. Aber warum landen eigentlich so viele Lebensmittel in der Tonne?

Die Aktivisten sehen die Gründe etwa in Fehlkalkulationen der Unternehmen: „Manchmal wurde zu viel eingekauft oder es muss Platz gemacht werden für ein neues Sortiment“, so Ben. Den Händlern sei es oft zu teuer und zeitaufwändig, beschädigte Ware zu reinigen und neu verpackt zum Verkauf anzubieten. Auch die Verpackungseinheit sei ein Problem: „Wenn eine Paprika schlecht ist, landen alle drei im Müll.“

Ein Beauty-Contest für Obst und Gemüse

Tatsächlich beginnt die Verschwendung bereits in der Produktion: Lebensmittel, die nicht einer gewissen Norm entsprechen, gehen gar nicht erst in den Verkauf und bleiben bei den Produzenten liegen. Tonangebend ist dabei die EU-Vermarktungsverordnung. Dabei geht es allerdings weniger um die Gesundheit, sondern um reine Optik: Formschön und makellos sollen Äpfel, Birnen und Tomaten sein – ein Beauty-Contest für Obst und Gemüse.

Ein weiterer Grund für die hohe Wegwerfquote ist die falsche Deutung des Mindesthaltbarkeitsdatums: Ist dieses überschritten, wird das Produkt aus den Regalen geräumt. Dabei ist ein „abgelaufener“ Joghurt keineswegs verfallen, auch wenn viele Verbraucher irrtümlich davon ausgehen. Das Produkt hat nur seine „spezifischen Eigenschaften verloren“, wie Paragraph 7 der LMKV (deutsche Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung) definiert. Das heißt: Vorm Verzehr einmal durchgerührt, ist der Joghurt wieder cremig.  Im internationalen Vergleich wird zwar deutlich, dass die Deutschen besonders gern an ihrer Ernährung sparen – die Folge ist jedoch keineswegs ein bewussterer Umgang mit Lebensmitteln, wie schon die hohe Wegwerfquote in Privathaushalten deutlich macht.

Unsere Tour geht weiter: Wir fahren zur nächsten Filiale des gleichen Discounters. Hier fällt die Ausbeute deutlich größer aus: Schnell füllt sich ein großer Plastiksack mit Radieschen, Birnen, Salat, auch Fleisch ist dabei. Zwar besteht die kleine Gruppe nur aus Vegetariern, Wurst und Schinken werden trotzdem eingepackt. „Ich selbst esse kein Fleisch, kann die Produkte aber an Freunde verteilen“, sagt Jalou bestimmt. Mia, 26, ist heute zum ersten Mal dabei. Für den Fall, dass sie etwas tiefer graben muss, hat sie Handschuhe und Grillzange eingepackt. Die kommen jedoch selten zum Einsatz. Viele Lebensmittel sind tatsächlich gut erhalten und liegen obenauf, tiefes Graben in der Tonne ist nicht notwendig.

Ein gewisser Nervenkitzel stellt sich ein beim Wühlen in der Tonne, die Tour gleicht einer kleinen Schatzsuche – schon der Fund des persönlichen Lieblingsjoghurts führt da zu  Begeisterung, das Highlight des Abends ist eine neue Kuchenform. Und wir sind nicht die einzigen Mülltaucher, die heute Abend unterwegs sind: Hinter einem anderen Supermarkt treffen wir auf zwei Studentinnen, die in der Tonne fischen. Auch diese Zwei erwecken nicht den Eindruck, als könnten sie sich keinen Einkauf leisten. Schnell entsteht eine Unterhaltung zwischen den zwei Gruppen, die gesammelte Beute wird präsentiert, ein eben gefundener Broccoli kurzerhand aufgeteilt.

Mit Gittern gesichert – Containern ist strafbar

Erwischt wurden Mia, Jalou und Ben bei ihren Container-Touren noch nie, vorsichtig sind sie trotzdem. Bei jeder Station wird sicher gestellt, ob die Luft rein ist – sind noch Supermarkt-Mitarbeiter auf dem Gelände, ist irgendwo eine Kamera versteckt? Paranoid sind diese Bedenken nicht, wie sich an der nächsten Station herausstellen soll. Wir stehen vor einem Supermarkt gehobener Preisklasse. „Die schmeißen immer total viel weg, da finden wir sicher etwas“, freut sich Jalou. Doch schon der Weg zum Hinterhof weckt Erinnerungen an einen schlechten Agentenfilm: Als die Drei das Gelände betreten, ist der ganze Hof plötzlich hell erleuchtet, eine in einem Baum platzierte Kamera verfolgt jede ihrer Bewegungen.

Mia und Jalou lassen sich nicht abschrecken, sie gehen weiter – und erleben eine Enttäuschung: Zum Schutz der drei Müllcontainer wurde ein Gitter aufgestellt, das die Tonnen wie ein Käfig umschließt. An jeder Seite des Gitters prangt ein Zettel, der die Gruppe deutlich darauf hinweist, dass die Mitnahme dieses Mülls eine Straftat ist. Abschreckung, die wirkt: Schlösser und Gitter werden die Drei heute Abend nicht überwinden. Immerhin läuft derzeit ein Verfahren gegen vier Osnabrücker Jugendliche: diese sind auf der Suche nach Lebensmitteln über die Absperrung eines Supermarkts geklettert, um zu eingeschlossenen Mülltonnen zu gelangen – nun wird ihnen Hausfriedensbruch vorgeworfen. So weit gehen Mia, Jalou und Ben nicht, auch wenn sie die Kriminalisierung ablehnen: „Wir nehmen uns doch nur, was sonst sinnlos verderben würde“, sagt Jalou.

Zwar kooperieren alle der von uns besuchten Supermärkte mit der Hamburger Tafel –  die Hilfseinrichtung bekommt alles, was nicht mehr verkauft und noch nicht weggeschmissen werden muss, also beschädigte Lebensmittel und solche mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum. Doch schnell verderbliche Produkte und Großverpackungen, in denen ein Teil verdorben ist, landen in der Tonne. Aus Unternehmenssicht verständlich: Sollte ein Konsument erkranken, können Aldi, Rewe und co dafür belangt werden. Doch was ich an diesem Abend beobachte, lässt vermuten, dass die Regelung eher nachlässig umgesetzt wird: Was die Mülltaucher in den Containern vorfinden, entspricht allzu oft der frischen Ware im Regal.

Lebensmittelkonsum: Bequem statt nachhaltig

Nach über zwei Stunden ist die Tour vorbei. Mia, Jalou und Ben teilen die Lebensmittel untereinander auf, jeder nimmt sich, was er braucht. Nur mit Mühe schleppen sie die prall gefüllten Taschen nach Hause, zum Glück ist der Heimweg nicht so lang. Ich für meinen Teil bin froh, dass wir heute mit dem Auto unterwegs sind. Zwar habe ich nur an einer kleinen Tour teilgenommen, ein wenig ermüdend ist die nächtliche Suche nach Lebensmitteln aber doch.

Eben darin liegt wohl auch der Grund, warum das Containern sich nicht zu einer Massenbewegung entwickeln wird: In unserer Gesellschaft ist der Konsument an eine überwältigende Vielfalt an Produkten gewöhnt, die sofort und möglichst bequem verfügbar sein sollten. Selbst der Gang zum Supermarkt erscheint da zuweilen umständlich, der Einkauf wird daheim per Mausklick erledigt. Unter der Woche nachts ohne Not durch die Stadt streifen und mitnehmen, was man eben so findet – inmitten des Überflusses für viele Menschen weiterhin unvorstellbar. Ben und Jalou freuen sich über ihren Fund und überlegen bereits, wie sie all die gesammelten Bananen verwerten könnten: Vielleicht wird daraus ein Obstsalat? Oder ein Milchshake? Eines werden die Beiden sicher nicht tun: Essen gedankenlos in den Müll schmeißen.

* Die Namen wurden geändert.

Fotos: Annika Lasarzik / Foerster, WikiCommons

Kommentare anzeigen (2)

2 Kommentare

  1. Andreas

    2. Mai 2013 at 14:57

    Sehr interessante Reise in die Hinterhöfe der Konsumgesellschaft, alles was nicht in die Norm passt wird gnadenlos aussortiert. Die Reportage sollte uns alle aufwecken. Einfach beim nächsten Einkauf den Griff zu den etwas fleckigen Bananen wagen.

    Vg
    Andreas

  2. Pjotr

    2. Dezember 2014 at 12:56

    2018 ist die Rentenkasse leer und es ist unmöglich, daß die Einnahmen jedes Jahr diesen Bedarf decken.
    Logischerweise werden damit die durchschnittlichen CDU Wähler selbst zu Mülltauchern. Die Pfandflaschenomis sind nur der Vorläufer.

    Von der Redaktion editiert. Bitte bleiben Sie sachlich.

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