Im Herzen Hamburgs steht der Hauptbahnhof. Nach außen erweckt das mächtige Bauwerk den Eindruck einer mittelalterlichen Burg. Dicke Steinwände verankern die Fundamente fest im Boden. Der hohe Turm weist Reisenden schon von Weitem den Weg. Hier schlägt der Puls der Stadt. Das Innere gleicht einem Ameisenhaufen. 450.000 Menschen suchen täglich den Bahnhof auf. Das Bedeutet jeder vierte Hamburger findet sich einmal täglich dort wieder. Jetzt im Winter dürften die Zahlen steigen. Zahlreiche Obdachlose suchen im Zentrum der Hansestadt Schutz vor der Kälte und nach etwas Gesellschaft. Die Tagquartiere des Winternotprogramms sind schon seit dem ersten Tag voll belegt. Selbst diejenigen, die für die Nacht ein Quartier gefunden haben sind jeden Morgen erneut auf der Straße. Der Zeitpunkt der kürzlich geschlossenen Vereinbarung zwischen der Stadt und der Deutschen Bahn AG (Mittendrin berichtete) kommt sehr ungünstig. Zwar sollen Personen, denen der Aufenthalt am Hauptbahnhof zukünftig untersagt wird an soziale Einrichtungen verwiesen werden, doch ob die Hilfsbedürftigen dort ankommen kann niemand überprüfen. Offen bleibt die Frage nach dem plötzlichen Aktionismus von Stadt und Bezirk. Entgegen der aktuellen Darstellung sah es lange Zeit so aus, als könnten soziale Probleme am Hauptbahnhof anders gelöst werden.
Ende der 1990er Jahre war die Lage im Umfeld des Bahnhofs mit dem Bild heute nicht zu vergleichen. Drogenabhängige hielten sich an den Plätzen vor dem Verkehrsknotenpunkt auf. Das Sicherheitsgefühl vieler Hamburger sank in Bezug auf den Bahnhof rapide. Auch gelang es kaum den Suchtkranken in angemessener Form Hilfe zukommen zu lassen. Die Politik handelte und es gelang die Suchtproblematik aus dem Blickfeld des Hauptbahnhofes verschwinden zu lassen. Zehn Jahre lang sind danach das Bahnhofsumfeld und die weiterhin bestehenden sozialen Probleme kaum mehr Thema im Rathaus gewesen.
Im Juni 2011 mehren sich dann Berichte in den Medien über eine schlimme Situation am Hauptbahnhof. Innensenator Michael Neumann und der damalige Bezirksamtsleiter für Hamburg-Mitte, Markus Schreiber, kündigen Maßnahmen zur Lösung des Problems an. Ein Runder Tisch wird durch Schreiber einberufen. Zu diesem Zeitpunkt sind keine sozialen Einrichtungen an den Beratungen des Gremiums beteiligt. Erstmalig wird in diesem Zusammenhang die Ausweitung des Hausrechtes der Deutschen Bahn auf öffentliche Flächen diskutiert. Ein Antrag der Grünen vom 14. September 2011, der dieses Vorgehen verhindern will, wird ohne Beratung in den Ausschüssen durch die Bürgerschaft abgelehnt.
Kurz darauf präsentiert das Bezirksamt ein „Konzept Sicherheit und Ordnung“ mit Bezug auf den Hauptbahnhof. Hier heißt es der Bahnhof würde unter anderem von Obdachlosen und Alkoholikern belagert. Neben dem subjektiven Sicherheitsempfinden der Passanten sorgt sich das Konzept auch um das Bild, welches sich anreisenden Touristen bieten würde. Ein Lösungsansatz, der in dem Papier genannt wird, soll der Deutschen Bahn zunächst für drei Monate Sondernutzungsrechte gewähren, um die Durchsetzung der im Bahnhof geltenden Regeln auch auf den Flächen davor zu ermöglichen. Nach Ablauf der Frist solle dann der Erfolg der Maßnahmen überprüft und weiteres veranlasst werden. Nachdem Bezirksamtsleiter Schreiber kurz darauf aufgrund der Errichtung eines Zauns an der Kersten-Miles-Brücke in die Kritik gerät, sieht die Deutsche Bahn jedoch davon ab einen Antrag auf Sondernutzung für die betreffenden Flächen zu stellen.
In den folgenden Monaten wird es ruhig um den Hauptbahnhof. Lediglich im Januar 2012 bemerkt der Senat in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der CDU, dass die Verbesserung der Verhältnisse am Hauptbahnhof ein sehr wichtiges Anliegen sei. Gleichzeitig arbeiten Sicherheitsdienste und soziale Einrichtungen am Hauptbahnhof im Rahmen des Arbeitskreises Sicherheit und Soziales eng zusammen. „Der Tenor aller Beteiligten war, dass es kein besonderes Problem am Hauptbahnhof gibt“, erinnert sich Gunnar Marwege, Pastor der Gemeinde St. Georg-Borgfelde.
Ein großer Teil der Hamburger Medien ist anderer Meinung. Erneut prägen Bilder von belagerungsähnlichen Zuständen die Schlagzeilen der Zeitungen. Radiosender versuchen mit eigenen Umfragen zu belegen, dass den Hamburgern ihr Bahnhof peinlich sei. „Die Beschreibungen in den Medien waren unzutreffend und übertrieben“, sagt Michael Joho, Vorsitzender der Einwohnervereins St. Georg. „Ich bin täglich am Hauptbahnhof. Niemand belagert dort die Plätze“.
Dennoch geht alles ganz schnell. Am 20. September stellt die SPD-Fraktion in der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte einen Antrag, in dem es heißt der Bezirksamtsleiter solle sich für eine Zusammenarbeit mit relevanten Akteuren einsetzen, um die Neugestaltung des Hauptbahnhofes vorzubereiten. Begründet wird der Antrag mit dem „nicht angemessenen Gesamtbild“ des Bahnhofes. Dass konkrete Maßnahmen längst in geplant sind bestätigt der Senat in der Antwort zu einer kleinen Anfrage der CDU vom 21. September 2012. Im Detail heißt es, die Umsetzung des „Konzept Sicherheit und Ordnung“ werde vorbereitet. Weiter gibt der Senat an, dass soziale Einrichtungen jetzt an den Gesprächen des Runden Tisches beteiligt sind.
Die Öffentlichkeit wird hiervon am 28. September 2012 durch einen Bericht der Bild-Zeitung informiert. In dem Artikel wird die Übertragung von Sondernutzungsrechten an die Deutsche Bahn bestätigt. Viele soziale Einrichtungen fühlen sich durch die Entwicklung überrumpelt. Darunter sind die Institutionen der SOPI, der Sozialen und Pädagogischen Initiative St. Georg, die seit 25 Jahren im Stadtteil aktiv ist. „Wir dachten, wir sind auf einem anderen Weg“, sagt Gudrun Greb, Leiterin der Einrichtung Ragazza, die drogenabhängigen Prostituierten Hilfe anbietet. „Dieses Problem ist herbeigeredet und herbei geschrieben. Menschen, die schon am Rande der Gesellschaft stehen, werden zu einem Problem gemacht“.
Am 25. Oktober wird der Vertrag zur Sondernutzung von öffentlichen Flächen durch die Deutsche Bahn unterzeichnet. Die dreimonatige Probephase fällt dabei weg. Zehn Jahre wird die Bahn für die Sicherheit im Umfeld des Hauptbahnhofes zuständig sein. „Mich überrascht, dass Bezirksamtsleiter Grote diesen Vertrag unterschrieben hat“, sagt Michael Joho. „Im Verlauf der Diskussion hatte sich der Bezirksamtsleiter bisher immer sehr moderat geäußert“.
Andy Grote selbst begründet die Notwendigkeit des Vertrages mit der Verengung der Zuwege zum Bahnhof durch dort sitzende oder liegende Personen. „Die Verengung ist rein subjektiv, da der Hauptbahnhof nicht für eine so große Menge an Menschen gebaut wurde“, entgegnet Marwege. „Raucher, Partygänger oder Fußballfans sorgen für den gleichen Eindruck“. Auch der von Grote befürwortete Trinkerraum wird von der SOPI kritisch betrachtet. „Ein Trinkerraum ist kein Allheilmittel. Verschiedene Menschen haben auch unterschiedliche Probleme und Bedürfnisse“, sagt Gudrun Greb.
Nach wie vor fehlt ein Gesamtkonzept für die sozialen Probleme im Umfeld des Hauptbahnhofes. Es ist unklar, warum Entscheidungen von Seiten der politischen Verantwortlichen mit dem gezeigten Nachdruck verfolgt worden sind. Die Grünen und die CDU in der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte haben bereits den Abschluss des Vertrages ohne ein bestehendes Sozialkonzept kritisiert. Die Piraten und die Linke lehnen den Vertrag vollständig ab. Offensichtlich werden sich Senat und Bezirk in diesem Winter besonders warm anziehen müssen.
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