Politik

Vor den Toren Hamburgs

Politik
Dominik Brück
@dobrueck

| M.A. Politikwissenschaft | E-Mail: brueck@hh-mittendrin.de

Flüchtlinge und Asylbewerber, die in Hamburg ankommen, bleiben oft nicht lange in der Hansestadt. Durch ein Kooperationsabkommen mit Mecklenburg-Vorpommern ist es möglich die Menschen in der Aufnahmeeinrichtung Nostdorf/Horst zwischen Lauenburg und Boizenburg unterzubringen. Rund 30 Kilometer vor den Toren Hamburgs können so bis zu 200 Flüchtlinge, die nach einem bundesweiten Verteilungsschlüssel dem Stadtstaat zugewiesen sind, dort untergebracht werden. Mehrere Organisationen, darunter der Flüchtlingsrat Hamburg und die Initiative „Stop it“, fordern die Einrichtung zu schließen. Am Montag kam es zu einer Blockadeaktion der bevorstehenden Ausreise von etwa 50 Flüchtlingen aus Deutschland nach Serbien.

Über der Bundesstraße liegt eine Friedhofsruhe. Auf den einsamen Feldern am Rande der Fahrbahn geistern die Nebelschwaden ziellos umher. Auch ohne den dichten Nebelschleier gäbe es hier nicht viel zu sehen. Inmitten von Wiesen und Wäldern scheint das Ende der Welt zu liegen. Die Scheinwerfer des Autos erfassen durch den trüben Novembermorgen hindurch ein Hinweisschild. Vor zwanzig Jahren war Deutschland an dieser Stelle geteilt. Ein Land getrennt in Menschen die frei in Wohlstand lebten und jene die jede Gefahr auf sich nahmen, um auf der anderen Seite der Grenze Freiheit und Wohlstand erfahren zu können. Wie ein Schatten aus der Vergangenheit tauchen aus dem Nebel die Umrisse einer ehemaligen NVA-Kaserne auf. Hier liegt die Aufnahmeeinrichtung Nostdorf/Horst. Es ist keine Grenze mehr, die hier den Wohlstand und die Freiheit der einen den anderen vorenthält. Ein einfacher Zaun und die Bürokratie eines der reichsten Industriestaaten genügen hierzu.

Am Montag soll ein Bus voll mit Flüchtlingen nach Serbien aufbrechen. Freiwillige Ausreise nennen die Behörden den Vorgang. Männer, Frauen und Kinder unterschiedlichen Alters sitzen mit all ihrem Hab und Gut in dem Reisebus und bereiten sich auf eine lange Fahrt bis nach Belgrad in Serbien vor. Vor der Einrichtung versammeln sich rund 50 Demonstranten, um gegen die freiwillige Ausreise zu protestieren. Aus ihrer Sicht handelt es sich um eine Massenabschiebung. „Die Funktion dieses Lagers ist es, abgeschieden von der Öffentlichkeit Abschiebungen durchführen zu können“, sagt Kim Ayalan von der Initiative „Stop it“. Seit Jahren kämpfen verschiedene Initiativen und Organisationen für die Schließung der Aufnahmeeinrichtung. Heute geht es nicht um die Existenz der Einrichtung, sondern um einen Bus voll mit Menschen, denen als Angehörigen der Volksgruppe der Roma in Serbien eine ungewisse Zukunft bevorsteht. „Wir wehren uns hier gegen diese Massenabschiebung. In Serbien werden diese Menschen diskriminiert. Die Zustände sind katastrophal“, sagt Franz Forsmann vom Flüchtlingsrat Hamburg.

Es ist eisig kalt an diesem Morgen. Die Demonstranten haben sich dick angezogen. Winterjacken, Schals, Handschuhe und Mützen gehören zur Pflichtausstattung. Genauso wie die Isomatten, um auf dem kalten Boden zu sitzen. Der Reisebus mit den Flüchtlingen soll hier keinen leichten Start bekommen. Doch erst einmal heißt es warten. Heißer Tee und Kaffee werden verteilt. Dazu gibt es selbstgebackene Kekse und Schokolade. Einige Männer und Frauen kommen an den Zaun. Freundlich werden die wartenden Demonstranten begrüßt. Viele kennen sich untereinander. Inzwischen betrachten die anwesenden Polizisten die Gruppe mit Argwohn. Niemand weiß, wie sich der Vormittag entwickeln wird.

Die Flüchtlinge am Zaun haben viel zu erzählen. Vorwürfe werden laut. Die Unterschriften unter die freiwilligen Ausreiseerklärungen seien mit Druck erzwungen worden, übersetzt ein etwa 12-jähriger Junge für seinen aufgebrachten Vater. Die übrigen stimmen lautstark zu. Zudem hätten viele die deutschsprachigen Formulare nicht verstanden. „Das hier ist wie ein Gefängnis. Das Essen und die medizinische Versorgung sind schlecht“, klagt eine ältere Frau. „Wir bekommen immer nur Reis, Kartoffeln und Nudeln mit Gulasch zu essen. Auch für Muslime gibt es nur Schweinefleisch.“ Sie sagt, sie sei seit zwölf Jahren in Deutschland. Fünf ihrer Kinder leben in Hamburg. Nun soll sie zurück nach Serbien. Ebenfalls zurück soll ein 18-jähriger Mann. Zurück nach Afghanistan. Dort kenne er jedoch niemanden, berichtet er. Seine Familie lebe in Hamburg. Dort sei er bereits vier Monate zur Schule gegangen und habe Deutsch gelernt. In Nostdorf/Horst sei es ihm nicht möglich weiter zur Schule zu gehen, sagt er. Am Zaun ist man sich einig. Die wenigsten wissen wohin sie gehen sollen, wenn sie wieder in ihrer „Heimat“ sind. Das UN-Flüchtlingshilfswerk stellt fest, dass es in Serbien insbesondere an Unterkünften für Flüchtlinge mangelt. „Viele Flüchtlinge müssen nach ihrer Rückkehr in Slums leben“, sagt Kim Ayalan.

Die Hamburger Innenbehörde erklärt die Vorwürfe in Bezug auf Essen, Schulbildung und medizinische Versorgung für haltlos und verweist auf eine Drucksache der Bürgerschaft. In dem Dokument heißt es in Bezug auf Nahrung: „Den Bewohnerinnen und Bewohnern wird mit drei täglichen Mahlzeiten eine ausgewogene Verpflegung angeboten, die ihren religiösen und ethnischen Belangen entspricht. Diätkost oder Spezialnahrung für Säuglinge und Kleinkinder werden bereit gestellt. Alle Mahlzeiten werden in der Küche vor Ort frisch zubereitet. Die Verwendung von Fertig- oder vorgefertigten Produkten ist auf ein Mindestmaß beschränkt.“ Weiter gibt die Behörde an: „In der Aufnahmeeinrichtung Nostorf/Horst befindet sich ein medizinischer Dienst, den alle dort wohnenden Personen nach eigenem Ermessen in Anspruch nehmen können.“ Zwei Krankenschwestern und zwei Honorarärzte seien für eine qualitativ hochwertige Versorgung zuständig. Es sei zusätzlich insbesondere den Bemühungen der Stadt Hamburg in den Vertragsverhandlungen zu verdanken, dass die schulischen Angebote ausgebaut wurden. Das nun vorhandene Angebot sei ausreichend, um auf einen regulären Schulbetrieb in Hamburg vorzubereiten.

In Nostdorf wurde inzwischen durch die Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Christiane Schneider eine spontane Versammlung bei der Polizei angemeldet. „Die Menschen werden hier mitten im Winter abgeschoben.“, sagt die Politikerin der Linken. Sie sei froh, dass spontan so viele Demonstranten gekommen seien. „Für die Menschen hier ist es wichtig zu sehen, dass sie Unterstützung haben“, sagt Schneider. Unterstützung erhält zunächst die Polizei. Insgesamt drei Peterwagen fahren vor. Die Demonstranten beginnen Transparente zu entrollen und diese hochzuhalten. „Kein Mensch ist illegal“, „Lager Horst abschaffen“, „Schäm dich Hamburg“, steht darauf geschrieben. Nicht nur Mitglieder von Initiativen und Organisationen sind mit dabei. „Ich will hier ein Zeichen gegen die Unmenschlichkeit setzen und habe mich entschieden spontan herzufahren“, sagt Ramon Osorio aus Hamburg. „Ich will zeigen, dass man Leute nicht unbemerkt abschieben kann. Dieses Thema braucht viel mehr Aufmerksamkeit“, ergänzt Moritz Krauß.

Schließlich rollt der Bus an. Zunächst geht es jedoch nicht zum Haupttor. „Sie fahren hinten raus“, ruft ein Demonstrant. Schnell wird reagiert. „Ein Teil bleibt hier, die anderen mir nach“, gibt ein anderer Protestler Anweisungen. Zügig trennen sich die Gruppen. Transparente werden unter den Arm geklemmt, Plakate zusammengefaltet. Nach wenigen Minuten sind beide Tore versperrt. Der Bus wendet erneut. Dasselbe Spiel noch einmal. Alle wieder nach Vorne. Der Reisebus erreicht das Tor. Langsam gleitet das schwere Eisengitter zur Seite. Im Schritttempo bewegt sich der Bus auf die Demonstrierenden zu. Diese setzen sich auf der Straße hin. Der Bus ist blockiert. Die Polizei spricht mit Christiane Schneider. Um 09:55 löst die Abgeordnete die Versammlung auf und zieht sich in den Hintergrund zurück. Die Demonstranten bleiben sitzen.

Die Polizei fordert die Gruppe auf die Blockade zu beenden. Im Hintergrund dröhnt der Motor des wartenden Reisebusses. Am Tor ist eine große Gruppe Flüchtlinge versammelt. „Stop Deportation“, rufen sie. Ein weiteres Mal fordert die Polizei die Auflösung der Blockade. Nichts geschieht. Die Polizisten greifen zu härteren Mitteln. Die Beamten beginnen damit die Demonstranten wegzutragen. Energisch werden die Sitzenden gepackt und über den Asphalt an den Rand der Fahrbahn gezogen. Es kommt zu kleineren Handgemengen. „Die Sitzblockade ist nicht durch das Versammlungsrecht gedeckt“, begründet die Pressestelle der Polizei später das Vorgehen. Das gewünschte Ergebnis erzielen die Polizisten nicht. Kaum ist ein Demonstrant an den Straßenrand gebracht worden, nimmt ein anderer seinen Platz wieder ein. Die Einsatzkräfte reichen nicht aus, um alle Demonstranten wegzutragen und an der Rückkehr in die Blockade zu hindern. Nach fünf Minuten geben die Polizisten auf.

Bei der Polizei scheint Ratlosigkeit zu herrschen. Die Demonstranten feiern. Die Flüchtlinge am Zaun jubeln ihnen zu. Der Busfahrer schaltet den Motor ab. Polizisten nehmen die Personalien der Personen in der Sitzblockade auf. „Gegenwärtig werden Straftatbestände unter anderem Nötigung gegen diese Personen geprüft“, erklärt die Pressestelle der Polizei. Jetzt beginnt das Warten. Der Bus steht, die Demonstranten sitzen davor. Aus der Aufnahmeeinrichtung kommen Flüchtlinge und bringen heißen Tee. Man gestattet Franz Forsmann vom Flüchtlingsrat Hamburg mit den Menschen im Bus zu reden. „Wir danken euch für eure Unterstützung“, übersetzt ein junger Mann. Die Flüchtlinge haben entschieden die weite Reise ohne weitere Verzögerungen anzutreten. Nach Belgrad sind es 1500 Kilometer. Vier Staatsgrenzen müssen überwunden werden. Viele der Flüchtlinge werden schon bald versuchen diese erneut zu überqueren, um in die Bundesrepublik zu gelangen. Um 11:30 Uhr fährt der Bus ab.

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