Während Kurden in Syrien als Gegner des Terrors gefeiert werden, sei der Großteil ihrer Bevölkerungsgruppe in Deutschland kriminalisiert. Wie begegnet man diesem Vorurteil? In Hamburg gehen viele Kurden auf die Straße.
Die Luft ist trocken, es sind minus fünf Grad. Trotzdem haben sich zahlreiche Kurden in der Sternschanze zusammengefunden. Damit sie nicht frieren, tanzen sie Arm in Arm im Kreis und singen Lieder. Zwar sollte die Demonstration gegen das seit 1993 bestehende Verbot der PKK, der kurdischen Arbeiterpartei unter Vorsitz von Abdullah Öcalan, in Deutschland bereits um 14 Uhr beginnen, doch es wird noch ein wenig gewartet. Man hofft auf zahlreiche Unterstützer. Aufgrund der Ereignisse in Syrien hat sich die Rolle der Kurden in Deutschland geändert. Plötzlich werden sie in der Öffentlichkeit nicht mehr kritisch gesehen, sind gar die „alleinigen Gegner des Terrors“ wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ titelte. Doch selbst wenn das linke Kulturzentrum „Rote Flora“, Hochburg linksautonomer Proteste in der Hansestadt, den Schulterschluss mit den Kurden in Hamburg übt, sind es nur knapp 600 Menschen, die mit Öcalan-Flaggen durch Hamburgs Straßen ziehen. Zu Demonstrationen gegen das IS-Terrorregime kamen mehr als doppelt so viele.
25.000 Kurden leben in Hamburg
Auch Cansu Özdemir, Abgeordnete für „Die Linke“ in der Hamburgischen Bürgerschaft, nahm an der Demonstration teil. Sie setzt sich für die Aufhebung des Verbots der PKK ein. „Das Verbot führt zu einer pauschalen Kriminalisierung aller Kurden in Hamburg“, sagt sie. „Selbst kulturelle Veranstaltungen wie Tanz- oder Malkurse von kurdischen Vereinen stehen unter einem Generalverdacht“. Tatsächlich werden viele kurdische Vereine in Hamburg nicht staatlich unterstützt, für Schüler gibt es allein einen Kurdischunterricht, der allerdings außerhalb der Schulzeit stattfindet und von nur einem Lehrer angeboten wird. Dabei leben in der Hansestadt etwa 25.000 Kurden. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, eine Anfrage von Özdemir an die Bürgerschaft ergab keine genauen Ergebnisse, weil ausschließlich die Staatsangehörigkeit erfasst wird. Kurden haben keine. Sie hatten noch nie einen Nationalstaat.
Kein Nationalstaat, keine anerkannte Volksgruppe
Nach den deutschen Behörden sind sie entweder Syrer, Türken, Iraker oder Iraner. Im Nahen Osten sind sie nur eine Minderheit, obwohl etwa 30 Millionen Kurden in der Region leben. Der Befreiungskampf gegen die Unterdrückung in den Staaten des Nahen Ostens wird schon lange geführt, hatte bislang aber kaum Erfolg. Ganz im Gegenteil: Kurden wurden sogar meistens vertrieben, im Irak verübte Saddam Hussein 1988 sogar einen Massenmord, dem mindestens 100.000 Kurden zum Opfer fielen. Viele flohen, genauso wie jetzt vor dem Islamischen Staat. „In Hamburg werden Kurden trotzdem nicht als eigenständige Volksgruppe anerkannt, sagt Özdemir, die in der Schule immer als ‚die Migrantin aus der Türkei‘ wahrgenommen wurde. „Die Integration mit der Identität wird nicht zugelassen. Erfolgreich sind nur jene, die sie aufgeben.“
Die Kurden pochen zwar nicht auf die Gründung eines eigenen Nationalstaats, aber in der nordsyrischen Region Rojava an der Grenze zur Türkei hat sich dennoch ein basisdemokratisches Staatsmodell herausgebildet, bei dem Gesetze von unten nach oben beschlossen werden. Ein fortschrittliches System, das selbst deutsche Politiker bewundern. Jan van Aken, Bundestagsabgeordneter für „Die Linke“, bereiste vergangenes Jahr die kurdischen Gebiete. Er berichtet von „vielversprechenden und beeindruckenden demokratischen Strukturen“ und lobt die progressive Rolle der Frauen in Rojava.
Wie groß die Sehnsucht der Kurden nach einem eigenen Rückzugsort ist, zeigt der Besuch des Co-Vorsitzenden der Partei der demokratischen Union (PYD), Salih Muslim, in Hamburg. Im bis auf den letzten Platz gefüllten Vorlesungssaal der Universität an der Edmund-Siemers-Allee warb er für die Etablierung kurdischer Gebiete: „Unsere einzige Waffe ist das Verlangen nach Demokratie.“ Von den Anwesenden wird er gefeiert wie ein Heilsbringer, von der Bundesregierung nicht.
Die liefert Waffen ausschließlich an die irakischen Kurden, die Peschmerga. Ihr Oberhaupt ist Präsident Masud Barzani, der weder mit der PKK in Verbindung gebracht wird, noch eine zu demokratische Politik macht.
Verbot der PKK, Diskriminierung in Deutschland
Anders ist das bei der PKK-Befreiungsbewegung, die sich offen dem linken Spektrum zuordnet. Seit 2002 steht sie auf der Terrorliste der Europäischen Union (EU); ein Geschenk an den Nato-Partner Türkei, sagen die Kurden. Tatsächlich aber kam es Anfang der 1990er Jahre auch in Deutschland zu schweren Anschlägen. Aus Wut über die Situation in der Türkei hatten PKK-Sympathisanten unter anderem das Generalkonsulat der Türkei in München überfallen und dabei 20 Geisel genommen. Insgesamt kam es am 24. Juni 1993 zu 55 Angriffen in 20 verschiedenen Städten. Drei Jahre später rief Öcalan zu einem Gewaltverzicht in Europa auf, dem bis heute die meisten Anhänger folgen. In Hamburg kam es trotzdem 1999 nach dem Todesurteil an PKK-Führer Öcalan zur Besetzung der SPD-Parteizentrale. 2012 kaperten außerdem PKK-Sympathisanten die Fähre „Elbmeile“ und nahmen somit kurzzeitig 60 Personen als Geisel. Zu Schaden kam aber niemand, es wurde bewusst keine Gewalt angewendet.
„Das waren Scheißaktionen“, sagt Yavuz Fersoglu vom deutsch-kurdischen Kulturzentrum am Steindamm, das als Anlaufpunkt der PKK gilt. Solche Aktionen seien nie organisiert, sondern aus der Verzweiflung einzelner entstanden, beteuert er. Die PKK, der in Deutschland laut Behörden etwa 13.000 Personen zugeordnet werden, arbeitet daran, ihr Betätigungsverbot aufzuheben. Grund dafür ist die verlorene Sympathie: vor drei Jahren liefen rund 2300 Türken und Kurden gemeinsam in Hamburg, um gegen den Terror der PKK zu protestieren. In der Sternschanze gibt es ein kurdisches Café. Die Besitzer sind vor Saddam Hussein geflohen und haben Verwandte im Irak verloren. Sie sind froh, ein Ort ohne Terror gefunden zu haben, und wollen schlicht ihre Ruhe. Politik zu machen, das lehnen sie partout ab.
Cafer Yildirim ist kein politischer Idealist, auch wenn sein Verein Flyer gestaltet und Demonstrationen mitorganisiert. Der Sozialarbeiter sitzt im Büro des Hevkar Arbeitervereins, den der 52-Jährige fast im Alleingang führt. Es ist gemütlich dort, oberste Etage eines Altbaus mit Industriecharme, eine orientalische Couch. Yildirim ist es vor allem wichtig, dass die kurdischen Jugendlichen eine Perspektive in Deutschland haben. Er bietet als Pädagoge Gespräche an, organisiert jährlich einen Austausch von jungen Kurden in Europa – häufig mit skandinavischen Ländern. Traurig ist er, weil Hamburg seit kurzem auch für ihn die Förderungen eingestellt hat. Warum, das weiß er nicht.
Studierendenverband sammelt Spenden
Viele Hamburger Kurden wollen aufgrund der politischen Situation aber nicht einfach nur zusehen. Sie gehen auf die Straße. Özdemir sagt sogar: „Sie sind die Gruppe, die schon im Kinderwagen auf Demonstrationen saß.“ Andere hissten auf dem Bundesparteitag der Grünen in Hamburg eine Fahne mit „Free Kurdistan“. Der Studierendenverband YXK der Kurden in Hamburg sammelte Spenden für die Selbstverteidigungseinheiten der YPG in Kobane. Es sind nur einige von zahlreichen Aktionen, die kurdische Vereine seit dem Angriff des IS auf Städte ihrer Volksgruppe veranstaltet haben.
Einige Kurden gehen sogar noch weiter und schließen sich den Verteidigungseinheiten an. Fersoglu kenne eine Menge Menschen, die nach Kobane gegangen sind, darunter auch Frauen. Mittlerweile dürfen sie jubeln: Die Stadt an der Grenze zur Türkei ist befreit. Fersoglu ist glücklich darüber, doch die Türkei habe ihr Ziel erreicht, sagt er: „Die Strukturen des kurdischen Kantons wurden vollständig zerstört, Kobane ist nur noch Schutt und Asche.“
Özdemir, die sogar Silvester in der gefährdeten Grenzstadt verbrachte, erzählt von einer Anekdote, die viel über das Weltbild der Kurden aussagt: Auf die Frage einer westlichen Journalistin, für wen sie denn kämpfe, antwortete eine Soldatin der Verteidigungseinheit: „Für euch.“
begesis
24. Februar 2015 at 04:07
Man hätte vielleicht, alleine aus Gründen journalistischer Redlichkeit, erwähnen können, dass die als Opener des Artikels dienende Demonstration gegen das PKK-Verbot bereits im November stattgefunden hat. Ist aber nicht so wichtig. Wichtiger ist wohl die Anmerkung, dass der Autor die Veranstaltung mit Salih Muslim anscheinend nicht genau verstanden hat. Ist es doch politische Programmatik der YPG, eben keinen Nationalstaat zu fordern, weshalb Sätze wie „Wie groß die Sehnsucht der Kurden nach einem eigenen Staat ist, zeigt der Besuch des Co-Vorsitzenden der Partei der demokratischen Union (PYD) Salih Muslim in Hamburg“ schlichtweg falsch und peinlich für den Autor sind. Es ist ja schön, dass ausnahmsweise auch mal mit Kurdinnen und Kurden gesprochen wurde – anstatt immer nur über sie. Nur: Man hätte ihnen vielleicht auch zuhören sollen.
Ansonsten, geschenkt: Dass die PKK in den letzten zwanzig Jahren einen massiven Veränderungsprozess durchlaufen hat, sowohl inhaltlich als auch organisatorisch, dürfte ja mittlerweile überall angekommen sein, sicher hat der Autor zur Vorbereitung den ein oder anderen Artikel in deutschen Zeitungen gelesen. Weshalb folgender Satz dann auch auf verschiedenen Ebenen dem Lektorat hätte zum Opfer fallen müssen: „Grund dafür ist die verlorene Sympathie: vor drei Jahren liefen rund 2300 Türken und Kurden gemeinsam in Hamburg, um gegen den Terror der PKK zu protestieren.“
Ansonsten netter Artikel, immerhin scheint es der Autor halbwegs ernst mit seinem Interesse gemeint haben. Und das nächste mal wird es dann mit ein wenig mehr inhaltlicher Vorbereitung (statt: Ich schreibe einfach nur mal kurz im bemüht-verstockten Reportagenstil auf, was ich meine, was Leute mir erzählt haben) auch eine runde Sache.
begesis
24. Februar 2015 at 04:09
Ergänzung: Ich meinte natürlich, dass es politische Programmatik der PYD (!) ist, keinen Nationalstaat zu fordern. Weil sie gar keinen wollen, sondern die Etablierung des Demokratischen Konförderalismus, der explizit antinationalstaatlich ist.
rolfmueller
25. Februar 2015 at 14:23
„begesis“ hat natürlich Recht, aber wenn alle Beiträge in den Medien so recherchiert und fair geschrieben wären wie dieser, hätten es die Kurden leichter, in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Den meisten Deutschen ist bis heute nicht klar, dass vieles, das für sie eine demokratische Selbstverständlichkeit ist, in der Türkei und im Iran als Terrorismus verfolgt wird.