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Fall Yagmur: Alles nach Vorschrift

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Beileidsbekundungen und vage Schuldeingeständnisse: Die Aufarbeitung des Todes der kleinen Yagmur aus Billstedt wird für den Untersuchungsausschuss zur müßigen Spurensuche. 

von Annika Lasarzik und Dominik Brück

Zuerst erschienen auf Zeit Online

“Wir alle empfinden tiefe Erschütterung und großes Entsetzen“ – mit diesen Worten beschreibt Holger Requardt die Stimmung im Jugendamt Eimsbüttel. Seit dem Tod der dreijährigen Yagmur sieht sich die Einrichtung mit schweren Vorwürfen konfrontiert, am Mittwoch sagte der Leiter des Amtes vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss aus. Die Liste der Fehler im Fall Yagmur ist lang und wurde in einem Bericht der Jugendhilfeinspektion bereits im Januar bis ins Detail aufgelistet. Zahlreichen Hinweisen auf Misshandlung im Elternhaus seien die Sachbearbeiter demnach nicht gründlich nachgegangen, im Mai 2013 fiel dann die folgenreiche Entscheidung: Yagmur wurde ihren leiblichen Eltern zurückgegeben – obwohl das Mädchen sich zu diesem Zeitpunkt bereits in einem Kinderschutzhaus befand und unklar war, wer dem Kind zahlreiche Körperverletzungen zugefügt hatte.  Auch ein laufendes Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft änderte nichts an der Entscheidung des Jugendamtes. Doch nicht nur der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) in Eimsbüttel steht in der Kritik: Ob Justiz, Sozialarbeit oder Politik – fehlende Kommunikation und persönliche Versäumnisse werden allen am Fall beteiligten Instanzen angelastet.

Schwachstellen im Jugendhilfesystem erkennt zwar auch Requardt, doch in der Rückführung Yagmurs zu ihren Eltern sieht der Jugendamtsleiter keinen Fehler. „Alle Vorschriften wurden eingehalten“, betont der Pädagoge er immer wieder vor dem Untersuchungsausschuss. Grundsätzlich sei es zulässig, das Kind trotz laufender Ermittlungsverfahren in die Obhut der Eltern zurückzugeben – wenn sicher gestellt sei, dass Leib und Wohl des Kindes nicht gefährdet seien und ein “Schutzkonzept” vorliege. Grundlage für die Entscheidung war eine Email von Yagmurs Pflegemutter an das Jugendamt gewesen, in der diese eingestand hatte, dass die Verletzungen des Kindes möglicherweise von ihr stammen könnten: Sie hatte das Kind einmal geschüttelt. Die außergewöhnliche Schwere der Verletzungen – Bauchspeicheldrüsenverletzung, Hirntrauma – hatten Rechtsmediziner da bereits ausführlich dokumentiert.

„Hilfskräfte für die Falldokumentation“

Trotz detaillierter Zeugenaussage und einer genauen Nachzeichnung aller bürokratischen Vogänge blieb die Frage nach dem Warum auch diesmal unbeantwortet. Eine konkrete, persönliche Einschätzung des Jugendamtleiters bleibt aus. Auch die Tatsache, dass trotz der Komplexität des Falls Yagmur die Zuständigkeiten zwischen dem Jugendamt Eimsbüttel und Mitte wegen eines Umzugs der Familie wechselten, sorgte bei vielen Ausschussmitgliedern für Stirnrunzeln. Dennoch entspreche auch dieser Vorgang den Vorschriften, so Requardt. Von der Arbeitsrealität im Jugendamt Eimsbüttel zeichnete der Pädagoge ein weniger düsteres Bild als ein Kollege, der vor Wochen im Untersuchungsausschuss ausgesagt und dabei massiven Personalmangel und eine hohe Arbeitsbelastung angeprangert hatte. Die Fluktuation des Personals sei zwar hoch – allein in diesem Jahr müssten bisher 14 von 40 Stellen neu besetzt werden. Doch dass die Sozialarbeiter aufgrund der Arbeitsbelastung den Job wechseln, glaubt Requardt nicht: Vielmehr seien Schwangerschaften und Änderungen in der Lebensplanung der Mitarbeiter die wahren Gründe für den schnellen Wechsel. Dass in der Folge viele junge Mitarbeiter mit relativ wenig Berufserfahrung im Jugendamt beschäftigt seien, werde allerdings immer mehr zum Problem, so Requardt. Problematisch sei auch der steigende Fachkräftemangel: Wenn neue Stellen ausgeschrieben werden, reichen die Qualifikationen der Bewerber häufig nicht aus. “Da müssen wir kreativ sein und stellen etwa studentische Hilfskräfte für die Falldokumentation ein”, sagt Requardt. Dass die Dokumentation mit der so genannten JUS-IT-Software zu kompliziert sei, hatten Vertreter der Jugendämter in Eimsbüttel und Mitte bereits mehrfach kritisiert – dabei bleibe kaum noch Zeit für den kollegialen Austausch und den direkten Kontakt zu Familien, bestätigte auch Jugendamtsleiter Requardt.

Justiz und Jugendhilfe müssen in Zukunft stärker zusammenarbeiten – dieser Tenor durchzog bereits vergangene Zeugenbefragungen und auch Requardt wurde in diesem Punkt deutlich: Dass die Mitarbeiter der Jugendämter kaum Einfluss nehmen könnten auf bereits gefällte Entscheidungen der Familiengerichte, “müsse sich dringend ändern” – nach dem Fall Yagmur würden sich die ASD-Mitarbeiter nun oft an die Rechtsaufsicht wenden, um so doch noch Kritik an einem laufenden Verfahren und einer juristischen Bewertung üben zu können.

„Die riesige Narbe war deutlich sichtbar“

Dass Kommunikation wohl die größte Schwachstelle des Kinderschutzes in Hamburg ist, machte auch die Aussage der Diplom-Sozialpädagogin Laura Mans von der Sozialpädagogischen Familienhilfe im Anschluss deutlich. Mans sollte Yagmur beim Übergang von der Pflegefamilie zurück zu ihren leiblichen Eltern begleiten. Informationen über den Fall erhielt die Pädagogin dabei überwiegend mündlich durch die zuständige Mitarbeiterin im Jugendamt, Einblick in die Akte hat Mans nicht. „Offensichtlich wäre es wichtig, mehr Informationen zu bekommen“, sagt Mans, die während ihrer Aussage mit den Tränen kämpft. Sie habe bei Yagmur keine Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung erkannt, auch sei der Fall nicht als solcher eingestuft gewesen. „Hätte ich eine Gefährdung erkannt, hätte ich diese sofort gemeldet“, sagt Mans.

Erst als Yagmur ins Krankenhaus eingeliefert wurde, habe sich gezeigt, dass das Kind misshandelt wurde. „Ich kam in ihr Zimmer und Yagmur saß mit halb rasiertem Kopf auf dem Bett. Die riesige Narbe war deutlich sichtbar“, so Mans. Von dort aus bringt sie Yagmur ins Kinderschutzhaus und ist für den Fall nun nicht mehr zuständig. Einmal besucht sie das Mädchen noch, kurz darauf kommt Yagmur wieder zu ihren Eltern und stirbt durch weitere Misshandlungen. Dass keine Hinweise auf Kindesmisshandlung vorlagen, erscheint im weiteren Verlauf der Befragung immer fragwürdiger: Sie habe den Eindruck gehabt, die Eltern seien mit der Betreuung des Kindes überfordert gewesen, sagt Mans. Dass diese nur mit dem Jugendamt zusammengearbeitet hätten, um Yagmur zurück zu bekommen, sei ihr klar gewesen. „Ich habe Yagmur bei ihren Eltern aber als sehr fröhliches Kind erlebt“, so die Pädagogin. Anzeichen von Angst bei Besuchen der Eltern erklärt sie mit der belastenden Situation für das Kind, die beim Wechsel von einer Pflegefamilie zu den Eltern normal seien. Allerdings basiert die Einschätzung der Pädagogin allein auf ihrer Erfahrung in der Pflegelternberatung, denn Yagmur ist die erste Rückführung zu den leiblichen Eltern, die Mans begleitet. Eine konkrete Handlungsanweisung für den Fall gab es nicht, sie habe sich “aber mit Kollegen ausgetauscht“, erklärt Mans. „Mein Fokus ist immer das Kind gewesen“, sagt die Pädagogin noch – und kann am Ende ihrer Befragung die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Foto: Tobias Johanning

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1 Kommentar

  1. Georg

    10. Juli 2014 at 14:09

    Juristisch verwertbar, oder nicht. Schon in den bisherigen Ausschüssen wird zwischen deutlich klar, wo die vielfältigen Probleme der Arbeit im Jugendamt liegen:
    Neue Mitarbeiter_innen fehlt die Zeit für Weiterbildung, die ohne Erfahrung leider auch zu wenig Rückhalt durch erfahrene Kolleg_innen bekommen, da zudem schlicht zu wenig Einarbeitungszeit unter Kolleg_innen bleibt.
    Dabei ist es gerade in diesem Bereich wichtig, umfassende Weiterbildungen durch Rechtsmediziner und andere Dienste in Anspruch zu nehmen, die sehr wohl unterschiedliche Gefahrenstufen von Kindeswohlgefährdungen erkennen können.
    Natürlich werden Eltern immer eine Kindeswohlgefährdung abstreiten und bis zu zuletzt eine Aushändigung des Kindes erreichen wollen. Dennoch besteht eben gerade hier die sensible Unterscheidungsarbeit vom Jugendamt bei Vorgeschichten von Eltern-Kind-Betreuungen auszuwählen, ob eine eigenverantwortliche Erziehungsarbeit durch die Eltern überhaupt sinnvoll ist.
    Wenn man sich da so die Versäumnisse wie etwa Informationen nur mündlich bekommen zu haben, oder keine genauen Einsichten in rechtsmedizinische Befunde gehabt zu haben, dann muss man sich schon fragen: Wieso wird dann überhaupt das Kind wieder den Eltern ausgehändigt? Zeitmangel? Gutglaube? Wo sind die knallharten Eckpunkte, an denen eine Übergabe festgemacht wurde?
    Insofern vertrete ich schon die Meinung, dass die Fluktuation auch durch die mangelnde Einarbeitung von so vielen neuen Kolleg_innen zurückzuführen ist und man da auch für die Zukunft ansetzen sollte.
    Des Weiteren muss auch gefragt werden, wie neue Kolleg_innen durch Rechtsmediziner über unterschiedliche Fallbeispiele von Kindeswohlgefährdungen aus rechtsmedizinischer Sicht aufgeklärt werden. Es gibt hier in der BRD ein reichhaltiges Weiterbildungsangebot; leider wird es von den Ämtern mit dem Verweis auf Zeitmangel viel zu oft abgelehnt.
    Und:
    Natürlich können Rechtsmediziner nicht die bessere Sozialarbeit leisten oder gar das Jugendamt ersetzen. Dennoch müssen im Falle des Jugendamtes vom Bezirk Mitte konkrete Vorschläge fallen, wo man mit Verbesserungen und Intensivierung von Kommunikation begonnen werden könnte. Nur damit hilft man in Zukunft gefährdeten Kindern auch wirklich.

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