Auf und davon: Unsere Redakteurin Carolin Wendt hat den Bezirk, die Stadt und Deutschland hinter sich gelassen und entdeckt gerade Jerusalem. Auf ihrem Blog schreibt sie darüber, welchen zentralen Stellenwert der Gaza-Krieg im Alltag aller, und dennoch fern ist.
Den ersten Raketenalarm in Jerusalem gab es am 8. Juli: Ich unterhalte mich in der Küche mit Ifat, meiner Mitbewohnerin. Sie studiert „Middle Eastern Studies“ und fliegt in zwei Wochen nach Deutschland, um an einem Sommerkurs der Uni Marburg zum Thema der Nahe Osten und die EU teilzunehmen. Die Balkontür ist offen, warmer Wind weht hinein. Plötzlich ertönt eine Sirene. Sie wird schnell lauter, heult in einem gleichförmigen Ton. Einen Schutzraum haben wir nicht. Der nächste ist laut Google Maps gute fünf Minuten entfernt. Also gehen wir ins Treppenhaus. Im Stockwerk über uns öffnen sich ebenfalls die Türen. Die Sirene tönt weiter. Ein Ton, der durch Mark und Knochen geht. Die Katzen vor dem Haus jaulen wie verrückt. „They go crazy, they can’t stand this sound.“, sagt Ifat. Irgendwie sind alle recht gelöst, die Nachbarn über uns scherzen. „Yes, the same like last year.“, sagt einer. Für mich nicht, aber Emotionen stecken an. Die Sirene hört auf zu heulen. Wir warten. Eine Detonation. Eine weitere, dann Ruhe. Tzachs Mutter ruft an, fragt wie es uns geht. Sie wohnt bei Tel Aviv. Dort gab es heute bereits drei Alarme. Wenig später beginnt das Halbfinalspiel Deutschland gegen Brasilien. Wir gucken es zu Hause. Nach der Halbzeitpause, werfe ich einen Blick aufs Handy: „20 Nachrichten in 15 Chats“. Zum ersten und einzigen Mal fragen mich so viele, wie es mir geht – dank der ZDF-Halbzeitberichterstattung.
Umgang mit den Angriffen
Ich bin immer noch in Jerusalem. Darum beschreibe ich, wie ich den Alltag hier auf der israelischen Seite erlebe. Auch wenn ich dadurch die Situation der Menschen im Gaza-Streifen, die Zerstörung und das Blutvergießen dort außen vorlasse, heißt es nicht, dass ich mir dessen nicht bewusst bin oder die Angriffe gutheiße. Durch die Beschreibung des Alltags hier soll all das auch nicht relativiert oder gerechtfertigt werden.
Die Reaktionen auf die Raketen-Angriffe sind unterschiedlich. Einige schalten ihren Fernseher gar nicht mehr aus. Sie wollen wissen, was geschieht, welche Stadt gerade beschossen wird. Eine Freundin, Mitte 50, ist an den Tagen nach einem Alarm jedes Mal aufgelöst. Sie kann vor Angst nicht mehr schlafen. Das gleiche höre ich manche Mütter über ihre Kinder sagen. Viele, auch ich selbst sind in den Stunden nach einem Alarm schreckhaft bei Geräuschen. Alles klingt für den Bruchteil einer Sekunde wie die Sirene. Was tun, wenn man draußen ist? Im Bus? In der Schwimmhalle? Alles Dinge, mit denen ich mich bisher noch nie beschäftigt habe. Für Israelis ist es selbstverständlich, so etwas zu wissen. Auch wenn ich Freunde besuche, gucke ich, ob das Treppenhaus keine Fenster hat, und somit im Falle eines Alarms als „Schutzraum“ geeignet wäre.
Die Reihen in der Uni leeren sich – Reservisten werden einberufen
Anfang Juli hat die Armee 1.500 Reservisten einberufen. Mittlerweile sind 48.000 Reservisten eingezogen und die Einberufung von weiteren 8.000 wurde beschlossen. Tzachs Lerngruppe hat sich sichtlich reduziert. Einer nach dem anderen verkündet in der Whatsapp-Gruppe, dass er zur Reserve muss. Unter anderem Ziv, mit dem wir fünf Tage zuvor noch durch die Innenstadt gegangen sind, um Übergriffe auf Araber zu melden. „I don’t have the mental strentgh to stand something like this now“, schreibt einer. Statt Prüfungen abzulegen, sitzen sie nun in der Westbank und sind in Gaza. Jedes Mal, wenn die Zahl der Reservisten erhöht wird, hoffen wir, dass weder Tzach noch jemand aus seiner Familie betroffen ist. Bisher mit Glück. An einem Morgen spricht mich eine Freundin an, ob Tzach einen der gefallenen Soldaten kannte. Sie habe gelesen, dass er aus seinem Heimatort kommt.
Ist ein Alltag möglich? Und erlaubt?
Schon öfter habe ich gelesen, die Israelis würden ihren Alltag weiterleben, als wäre nichts geschehen, sie würden in Strandbars und Cafés sitzen, und sich des Lebens erfreuen (jüngst hier). Ja, die Mehrheit lebt ihren Alltag weiter, aber das heißt nicht, dass sie den Konflikt ignorieren. Ich kenne niemanden, dem der Krieg gleichgültig ist oder den er kalt lässt. Bei jedem Zusammentreffen wird er thematisiert, er nimmt die Gedanken ein, fordert immer wieder Positionierung unter Freunden und Bekannten. Jeder weiß, wenn eine Feuerpause ist, wenn sie gebrochen wird, über die steigenden Opferzahlen und die Namen der Gefallenen. Die meisten wissen auch über die heftigen Reaktionen in aller Welt. Und zwischen dem Alltag gibt es die Raketenangriffe, die Sorge, dass unter den toten Soldaten ein Verwandter oder Freund ist, und auch immer wieder Proteste gegen den Krieg – und leider auch für ihn.
„Die“ Israelis gibt es nicht – übersehene Diversität der Meinungen
Es sind nicht „die Israelis“, die den Konflikt auf diese Art lösen wollen. In meinem Bekanntenkreis reichen die Meinungen von (1) der uneingeschränkten Ablehnung jeglicher Militäroperationen im Gaza-Streifen und der Forderung nach Grenzöffnung, über (2) eine pazifistische Grundeinstellung, die sich im Konflikt damit befindet, dass die Hamas über Raketen und Tunnel verfügt und als offizielles Ziel hat, so viele Juden wie möglich zu töten bis hin zur (3) nationalistischen Einstellung, die den Schutz Israels als oberste Priorität ansieht. Leute, die „Tod den Arabern“ skandieren oder sich an Toten im Gaza-Streifen erfreuen, kenne ich nicht, aber es gibt auch sie. Auch die Medien hier decken ein breites Meinungsspektrum ab, vor allem die liberale Zeitung HaAretz berichtet kritisch über den Konflikt und das Vorgehen Israels.
„One day in Jerusalem – wow it feels like being abroad“
Vorgestern haben uns Freunde aus Tel Aviv und Beer Sheva besucht. Beer Sheva ist die größte Stadt in der Negev Wüste. Am Spätnachmittag beim Kuchen essen, wird im Radio verkündet, dass drei Kommandeure im Gaza-Streifen getötet wurden. Das ist der Moment, in dem das Gespräch zum ersten Mal auf den Krieg kommt, und eine Diskussion darüber beginnt, ob es eine Notwendigkeit für die Bombardierung und die Bodenoffensive zur Zerstörung der Tunnel gibt. Und auch der Moment, in dem Liza, die in Beer Sheva Medizin studiert, meint: „Wow, the whole day really felt like being abroad. There was not one alarm yet.“ Und tatsächlich hat sich die Situation in Jerusalem seit Beginn der Angriffe gewendet. Als die Suche nach drei Jugendlichen lief, die verdächtigt werden einen palästinensischen Jungen getötet zu haben, war die Stimmung hier sehr angespannt. Es gab Anfeindungen, Proteste und Übergriffe von Juden auf Araber und umgekehrt.
Das hat sich zumindest oberflächlich bis gestern Abend als 10.000 Palästinenser aus Ramallah in Ostjerusalem demonstrieren wollten, gelegt. Und ich hoffe, dass das Ende des Fastenmonats Ramadan nicht der Beginn einer weiteren Eskalation sein wird. Die Sirene ist bisher nur dreimal ertönt. Beim zweiten Angriff saßen wir wieder im Treppenhaus und haben nacheinander fünf Detonationen gezählt. Jerusalem ist bei den Angriffen vor allem deswegen außen vor, weil hier muslimische Heiligtümer wie die Al-Asqua Moschee und der Felsendom stehen und die Westbank nebenan liegt. Einige Raketen sind bereits bei Bethlehem und Hebron eingeschlagen. Keine Hundert Kilometer von hier können die Menschen nicht in Cafés über ihre persönliche Ansichten zur Moral und Rechtfertigung von Luftangriffen diskutieren, heulen keine Sirenen und werden keine Raketen am Himmel abgeschossen, sondern zerstören Wohnhäuser. Das ist real, aber für mich doch nicht fassbar.
Ihr habt den Anfang von Caros Reise verpasst? Hier könnt ihr nachlesen, was sie bisher erlebt hat.
Hier geht´s zu Caros Blog.
Foto: Carolin Wendt
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