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Autorin Kirsten Boie: „Lesen lehrt Empathie“

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Anja-Katharina Riesterer
@anjaminusk

*1991| Stipendiatin an der MHMK (Studiengang Journalistik) | Kontakt: riesterer@hh-mittendrin.de | www.anja-katharina.de

Sie hat mit „King Kong das Geheimschwein“ und „Seeräubermoses“ viele Kinderzimmer gekapert und sich in die Herzen der Deutschen geschrieben: die Hamburger Autorin Kirsten Boie. Am 23. April ist Welttag des Buches und Mittendrin startet eine Interviewreihe mit Hamburger AutorInnen. Auch Kirsten Boie weiß den Feiertag zu würdigen und gibt für Kinder eine Lesung im Ernst Deutsch Theater.

Mittendrin: Frau Boie, Sie sind sehr internetaffin und bedienen Ihre Facebookseite selbst. Jede Woche veröffentlichen Sie einen Kinder-Leserbrief. Ein Junge stellt die Frage: „Helfen dir die Kinder beim Schreiben?“

Kirsten Boie: Meine Kinder habe ich da stets rausgehalten, ihre Privatsphäre war mir wichtig. Erlebnisse ihrer Freunde haben mich durchaus inspiriert. Auch wenn ich heute Kinder treffe oder bei Lesungen ihre Fragen beantworte, kann das Anstoß für eine Geschichte sein..

Ihre Kinder haben also keine Beziehung zu den Geschichten?

Kirsten Boie: Nein, die haben sogar immer gesagt: das ist doch nichts Besonderes, das sind ja nur Geschichten von dir, Mama. (lacht)

Wie kommt es, dass Sie die Sprache der Kinder fließend sprechen und sich so sicher in deren Bilderwelt bewegen?

Kirsten Boie: Das kann ich so gar nicht von mir behaupten, aber ich freue mich, wenn es so ankommt. Beim Schreiben habe ich ein potenzielles Leserkind im Hinterkopf, das mir die Richtung vorgibt. Es ist auf einem bestimmten Entwicklungsstand und kennt gewisse Begriffe, andere muss ich erklären oder eben kindgerecht umschreiben. Bis jetzt hat es mich nie enttäuscht.

Warum ist Lesen für Kinder so wichtig?

Kirsten Boie: Ganz vorne stehen Spaß, Spannung und auch der Trost, den ein Buch vermitteln kann. Lesen ist eine Schlüsselqualifikation für’s Leben, ohne die man am Autobahnkreuz aufgeschmissen ist und die falsche Abfahrt nimmt. Aber es kann mehr, übertrifft sogar Filme! Denn nur beim Lesen kann ich in fremde Gedanken und Gefühle eintauchen und sie für eine Weile zu meinen eigenen machen. Das stärkt eine soziale Basisqualifikation: die der Empathie. Wer nie gelernt hat, sich in andere hereinzuversetzen, hat später Probleme.

Am 23. April ist Welttag des Buches – worin besteht beim Lesen der Unterschied zwischen einem „normalen“ Buch und einem E-Book?

Kirsten Boie: Das E-Book hat Vorteile: auf Reisen kann man 20 Bücher mitnehmen, ohne den Gepäckzuschlag zahlen zu müssen. Aber eins geht verloren: die Illustration. Zwar sind die Grafiken toll erleuchtet und bunt, können aber nur auf einer kleinen Seite dargestellt werden. Das kommt nicht an ein schönes Bilderbuch heran!

Sie setzen sich sehr für Illustrationen in Kinderbüchern ein. Geht durch zu viele Bilder nicht die Fantasiearbeit beim Lesen verloren?

Kirsten Boie: Bestimmt nicht. Gerade kleine Kinder wollen noch keine zusammenhängende Geschichte hören, sondern erschließen sie sich über einzelne Bilder, die sie stundenlang betrachten. Je älter das Kind wird, desto mehr treten diese Bilder zugunsten der Sprache zurück. Die Bücher entwickeln sich also mit.

Sie haben für Ihre Bücher unzählige Auszeichnungen erhalten, in alle Sprachen der Welt werden sie übersetzt. Eine junge Amerikanerin hat sich bedankt, dass Ihre Geschichten ohne „Vampire, Gewalt und smutty material“ auskommen. Verzichten Sie bewusst darauf?

Kirsten Boie: Ich überlege nicht, was gefallen könnte und was die Leute lesen wollen, meine Ideen kommen spontan. Und da sind eben keine Vampire dabei. Dass gerade Jugendliche gerne in Fantasywelten abtauchen, finde ich aber verständlich. Die Pubertät ist die schwierigste Phase des Lebens, man fühlt sich unwohl, unverstanden und weiß nicht, worauf das Leben hinausläuft. Wenn sich dann Identifikationsfiguren in diesen Geschichten anbieten, die anfangs oft genauso unscheinbar sind und dann in einer völlig anderen Welt ganz Großes vollbringen, kann das ein Ersatz sein – und eine Flucht für eine gewisse Zeit. Das ist völlig in Ordnung und passiert selbst den Älteren noch.

Sind deshalb „Twilight“ oder „Die Tribute von Panem“ auch in der Erwachsenenwelt so erfolgreich?

Kirsten Boie: Ich denke schon. „Die Tribute von Panem“ ist von einer Drehbuchautorin geschrieben, da steckt ein klares Konzept dahinter. Auch bei Twilight kann man das beobachten: die Heldin ist hin und hergerissen zwischen zwei Männern, die Idealtypen verkörpern. Welche Frau wünscht sich das nicht?

Ihr aktuelles Werk „Es gibt Geschichten, die kann man nicht erzählen“ geht auch mehreren Generationen auf verschiedene Weise sehr nahe. Am Welttag des Buches lesen Sie Hamburger SchülerInnen im Ernst Deutsch Theater (11 Uhr) daraus vor. Worum geht es?

Kirsten Boie: Es geht um Kinder aus Swasiland, deren Eltern an HIV gestorben sind und die zu schnell erwachsen werden müssen. Thulani möchte Fußballspieler werden, muss aber seine Schwester und die kranke Großmutter pflegen. Das Mädchen Lungile verkauft zum Beispiel ihren Körper, um ihrer Schwester Schuhe zu finanzieren…

Wie kommen Sie als Hamburgerin dazu, Geschichten aus Swasiland, noch dazu so dramatische, zu erzählen?

Kirsten Boie: Durch persönliche Berührung. Ich bin oft in Swasiland, wunderschön ist es dort. Aber das Land hat die höchste HIV-Infektionsrate weltweit, durchschnittlich wird man dort 31 Jahre alt. So sind 45% aller Kinder Waisen oder Halbwaisen, leben allein oder mit ihren Großeltern. Und das in zerfallenen Lehmhütten, ohne Strom, ohne Wasser… Weil die Dorfgemeinschaften schrumpfen und sich nicht mehr um die Waisen kümmern können, müssen wir neue Wege finden. Ich unterstütze „MobiDik“ (Mobilder Dienst für Kinder“). Hier wird Ehrenamtlichen geholfen, die Kinder zu betreuen und zu versorgen – auch medizinisch. Und vielleicht kann auch mein Buch etwas bewegen.

Spricht man in Swasiland offen über HIV?

Kirsten Boie: Ja, inzwischen schon. Viele Jahre wurde das gemieden, auch deshalb, weil die Informationen nicht wie bei uns über Zeitung und Fernsehen geliefert wurden, die es dort in abgelegenen Gebieten nicht gibt. Sie kommen im persönlichen Austausch und da wissen die Leute oft nicht, was sie glauben sollen. Wir stellen fest, dass immer mehr Menschen kommen, um sich testen zu lassen. Es ist wichtig, dass sie wissen: HIV positiv ist kein Todesurteil. Mit unseren Medikamenten können sie noch viele, viele Jahre leben.

Welchen Stellenwert haben Bücher für die Kinder dort?

Kirsten Boie: Da kann ich nur spekulieren, denn ich habe in den Neighbourhood Care Points nie welche gesehen. Generell lebt dort eine Kultur der Mündlichkeit, Bücher gibt es in bildungsnahen Schichten, also in den Städten. Daran arbeiten wir aber: wir haben gerade ein zweisprachiges Bilderbuch erstellt, auf Englisch und in der Landessprache. Jeder Care Point hat so eins bekommen. Bei meiner nächsten Reise werde ich schauen, was damit passiert ist!

Gab es reale Vorbilder für Thulani, Lungile und die anderen Kinder?

Kirsten Boie: Ja. All diese Kinder habe ich kennengelernt, zuhause in ihren Hütten. Aber natürlich bleibt eine Geschichte immer eine Geschichte.

Foto: Reto Klar

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