Minderjährige Flüchtlinge: Vormund gesucht

Hamburg ist beliebtes Ziel für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge. Die Stadt kommt mit der Betreuung kaum hinterher. Manche sind kriminell, was viel Aufsehen macht.

Zuerst veröffentlicht bei Zeit Online am 15. April 2015.

Ein Tag im Bullerdeich Nummer 6 hat eine feste Struktur. Um Acht klingelt der Wecker, nach dem Frühstück wird gelernt. Die Fächer: Deutsch und soziale Kompetenzen. Nach dem Mittagessen ist Zeit für Sport, zweimal in der Woche gehen die Jungen zum Trommelworkshop. Danach: Abendbrot, Fernsehen, Nachtruhe ab 22 Uhr.

Nach diesem Rhythmus leben 15 minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge seit zwei Wochen auf einem ehemaligen Recyclinghof in Hamburg-Hammerbrook. Die Jugendlichen sind kriminelle Intensivtäter, die in einer Unterkunft des Kinder- und Jugendnotdienstes in Alsterdorf ihre Betreuer angegriffen haben. Die Adresse Bullerdeich Nummer 6 liegt in einem Industriegebiet, was vorab bereits zu Kritik führte. Zudem hat es dort bereits gebrannt, einer der 16 Wohncontainer ist am Dienstag völlig ausgebrannt, zwei weitere Container wurden beschädigt. Die Ursache ist noch unbekannt.

In der neuen Unterkunft im Industriegebiet sollen die Jugendlichen jetzt Grenzen lernen, sich an feste Tagesabläufe gewöhnen. Geht das Konzept auf? „Für eine Evaluation ist es noch zu früh“, sagt Marcel Schweitzer, Sprecher der Hamburger Sozialbehörde, die das Konzept mit dem Landesbetrieb für Erziehung und Bildung (LEB) entwickelt hat. Drei Flüchtlinge seien erst vor Kurzem eingezogen, in eine Folgeunterkunft wurde bisher noch kein Bewohner vermittelt.

Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge
… sind Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern oder andere Sorgeberechtigte eingereist sind. Nach internationalem Recht gelten sie als besonders schutzbedürftig. Bis sie 18 Jahre alt sind, erhalten die sogenannten „MUF’s“ eine Duldung und einen Vormund – in der Regel das Jugendamt, in seltenen Fällen auch Privatpersonen. In vielen Ländern durchlaufen sie ein „Clearingverfahren“, in dem die Flüchtgründe ermittelt werden und geklärt wird, wo sich noch Verwandte aufhalten könnten.

Der Umzug der verhaltensauffälligen Flüchtlinge ins raue Industriegebiet hatte Kritik ausgelöst, Flüchtlingsverbände sahen das Kindeswohl gefährdet. Auch Anwohner äußerten Bedenken, eine benachbarte Werbeagentur sicherte vorsorglich ihren Innenhof ab. Zu Zwischenfällen kam es dort bisher jedoch nicht, wie ein Mitarbeiter der Agentur sagte. Bei der Flüchtlingsunterkunft selbst ist das anders: Neunmal musste die Polizei in den letzten zwei Wochen anrücken, sagt Polizeisprecher Holger Vehren. Ende März waren Polizei und Feuerwehr gleichzeitig vor Ort, weil ein Bewohner einen falschen Notruf ausgelöst hatte.

Die zehn Erstversorgungen reichen nicht mehr

Auch wenn der Fall der kriminellen Flüchtlinge Aufsehen erregt: Gemessen an den 1.400 minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen in Hamburg, viele von ihnen kommen traumatisiert aus Krisengebieten nach Hamburg, macht nur eine kleine Gruppe den Behörden Probleme. 50 Jugendliche gelten als auffällig, 31 davon sind Intensivtäter. Ob und in welchem Ausmaß die tödliche Messerattacke eines 17-jährigen afghanischen Migranten auf einen gleichaltrigen Afghanen am Dienstag in einer Wilhelmsburger Schule im Kontext mit dem Leben als jugendliche Flüchtlinge steht, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht bekannt. Es gibt aber Hinweise, dass mindestens einer von beiden als unbegleiteter Flüchtling hierher kam.

Die Frage nach dem richtigen Umgang mit jungen Flüchtlingen wird Hamburg auf jeden Fall weiter beschäftigen, denn allein im ersten Quartal des Jahres kamen 265 Minderjährige ohne Angehörige in die Stadt, im Jahr 2014 waren es über 850. Die Plätze in den zehn Erstversorgungseinrichtungen der Stadt reichen auch für die Jugendlichen längst nicht mehr aus, allein die Unterkunft Feuerbergstraße ist mit ihren 121 Bewohnern deutlich überbelegt. Die dort lebenden Flüchtlinge sollen Mitte des Jahres auf vier neue Erstaufnahmeeinrichtungen verteilt werden, eine davon ist das Containerdorf in Hammerbrook.

Während die Bewohner des Recyclinghofs kommen und gehen dürfen, setzt sich in Bremen ein anderes Konzept durch. Dort plant der rot-grüne Senat ein geschlossenes Heim für straffällig gewordene Flüchtlinge. Nun verhandeln Hamburg und Bremen über eine Kooperation: Hamburg sucht nach einer Unterkunft für seine Jugendlichen und könnte den Träger stellen, in Bremen gibt es das potenzielle Heim. Dass am Ende auch junge Flüchtlinge aus Hamburg geschlossen untergebracht werden könnten, schließt die Sozialbehörde nicht aus. Ein Freiheitsentzug könnte im Einzelfall der richtige Weg sein, „wenn alle anderen Maßnahmen der Jugendhilfe erfolglos waren und die Maßnahme für das Kindeswohl als geeignetes Mittel geboten ist“, sagt Marcel Schweitzer. Dabei könne es darum gehen, die Jugendlichen vor sich selbst und anderen zu schützen.

Diese Lösung – geschlossene Heime für Flüchtlinge – lehnt der Hamburger Kinderschutzbund ab. „Aus pädagogischer Sicht ist davon auszugehen, dass sich die Probleme in einer geschlossenen Unterbringung verstärken“, sagt die Sozialpädagogin Sevil Dietzel. „Bei dieser Zielgruppe könnten schwere psychische Belastungen vorliegen. Es bedarf also entsprechender individueller Lösungen mit besonderen Bezugspersonen und Psychotherapie und begleitender Ausbildung.“ Stabile Bindungen aufbauen und jungen Flüchtlingen die Integration erleichtern – diese Aufgabe können ehrenamtliche Vormünder übernehmen, die Flüchtlinge im Alltag unterstützen.

„Ein privater Vormund kann seinem Mündel ein Vorbild sein und ihm zeigen, wie man in Hamburg lebt und überlebt“, sagt Dietzel. Ein Amtsvormund, der bis zu 50 Mündel gleichzeitig betreue, habe hingegen kaum Zeit für den Einzelfall. Zwei halbe Stellen finanziert die Sozialbehörde dem Kinderschutzbund für die Betreuung der privaten Vormünder. Zu wenig, um dem Bedarf gerecht zu werden, findet Dietzel.

Im Durchschnitt melden sich beim Kinderschutzbund jede Woche zwei Hamburger, die eine Vormundschaft für Flüchtlinge übernehmen wollen. „Es ist unverständlich, warum unser Projekt nicht mehr Zuwendungen erhält, wir könnten wesentlich mehr Vormünder betreuen und schulen als jetzt“, sagt Dietzel.

Die steigende Zahl junger Flüchtlinge bekommen auch freie Jugendhilfeträger wie der Verein „Basis und Woge“ zu spüren. Franziska Gottschalk arbeitet bei dem Projekt „Utkiek“, das jungen Flüchtlingen die Arbeitsmarktintegration erleichtern soll und Teil des städtisch finanzierten Netzwerkes „Chancen am Fluchtort“ ist. Hundert Jugendliche wurden im vergangenen Jahr betreut, viele Anfragen musste der Verein ablehnen, weil die Kapazitäten fehlen. Ihre Klienten erlebt Gottschalk hoch motiviert: „Ich habe großen Respekt vor der Tatsache, dass die jungen Flüchtlinge in kurzer Zeit eine neue Sprache lernen und in der Regel auch einen Bildungsabschluss machen“, sagt sie.

Zwei Mitarbeiter auf der Basis einer halben Stelle arbeiten bei „Utkiek“, die Belastungsgrenze ist auch in diesem Verein erreicht. Trotzdem findet Franziska Gottschalk lobende Worte für das Engagement der Hamburger Behörden. „Wir merken, dass die Stadt darum bemüht ist, eine gute Betreuung minderjähriger Flüchtlinge zu gewährleisten. Auch bei Fragen und Anmerkungen stoßen wir auf offene Ohren.“ Kriminell und verhaltensauffällig? Dieses Bild junger Flüchtlinge sei alles andere als repräsentativ, sagt Gottschalk. „Die jungen Menschen arbeiten schwer an einer Verbesserung ihrer Situation. Ich stelle immer wieder fest: Diese jungen Leute wollen lernen, arbeiten, sich integrieren.“

Mehr zum Thema:

Junge Flüchtlinge: Letzte Hoffnung Recyclinghof

Kinderschutzbund im Interview: Junge Flüchtlinge brauchen Vorbilder

 

Fotos: Marvin Mertens
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