Einen Tag nach dem TV-Duell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück mussten sich die DirektkandidatInnen im Wahlkreis Wilhelmsburg-Harburg-Bergedorf am Montagabend ebenfalls den Fragen des Moderators stellen. Anders als im TV griffen im Bürgerhaus Wilhelmsburg jedoch auch die BürgerInnen in die Debatte ein.
Nachdem am Sonntagabend bereits Angela Merkel (CDU) und Peer Steinbrück (SPD) beim Kanzlerduell insgesamt vier Moderatoren und mehr als 17 Millionen ZuschauerInnen Rede und Antwort stehen mussten, standen die DirektkandidatInnen der fünf Bundestagsparteien (FDP, CDU, LINKE, GAL und SPD) am Montagabend im Wilhelmsburger Bürgerhaus vor einer ähnlichen Herausforderung – wenn auch im kleineren Stil. Zahlreiche BürgerInnen waren der Einladung des Vereins „Zukunft Elbinsel“ zum „Wahlprüfstand Wilhelmsburg“ gefolgt.
Auf dem Prüfstand standen fünf PolitikerInnen, die bei der Bundestagswahl am 22. September ein Direktmandat für den Wahlkreis 23 (Wilhelmsburg, Harburg und Bergedorf) gewinnen wollen. Für die FDP trat Kurt Duwe an, die CDU wurde durch die ehemalige Senatorin für Wissenschaft und Forschung Herlind Gundelach vertreten. Der gebürtige Wilhelmsburger Metin Hakverdi will nach der Wahl als SPD-Abgeordneter für seinen Heimatstadtteil in den Bundestag einziehen, während Manuel Sarrazin bereits seit 2008 für die Grünen im Parlament sitzt und in diesem Jahr erneut das Vertrauen der WählerInnen gewinnen will. Die Kandidatin der Linken Sabine Boeddinghaus kämpft zum ersten mal um den Einzug in den Bundestag. Zu Beginn stellte sich jeder der fünf PolitikerInnen kurz vor und musste auf Anweisung von Moderator Hartmut Sauer auch schon die erste inhaltliche Frage beantworten.
„Welchen Stellenwert hat Bürgerbeteiligung für Sie?“
Genau wie beim TV-Duell stand jedem der fünf PolitikerInnen nur eine festgelegte Redezeit – in der ersten Runde waren es drei Minuten – zur Verfügung. Diese nutzte Kurt Duwe, um zu erläutern, dass er eine BürgerInnenbeteiligung in Form einer „kommunalen Demokratie“ befürwortet und daher mehr Einfluss für die Bezirksversammlung und ihren Ausschüssen gegenüber dem Senat fordert. Auch Sabine Boeddinghaus sprach sich für mehr BürgerInnenbeteiligung aus. Sie sieht BürgerInnenbeteiligung als wichtiges Instrument gegen eine Tendenz der bürgerfernen Politik. In diesem Zusammenhang kritisierte die 56-Jährige vor allem die vergangenen Bürgerentscheide in Hamburg als „Akzeptanzbeschaffungsmaßnahmen seitens des Senats.“ Auch der Grünen Abgeordnete Manuel Sarrazin betonte die Rolle von BürgerInnenbeteiligung als Ergänzung der Entscheidungsfindung im Parlament. Diese müsse auf jeden Fall stattfinden bevor die Entscheidung fällt. Daher fordert der 31-Jährige die Einführung von Referenden für jedes Großprojekt in Hamburg. Die grundsätzliche Notwendigkeit von mehr BürgerInnenbeteiligung sieht auch Herlind Gundelach, betont allerdings: „Irgendwann muss auch entschieden werden.“ Dafür seien in der Verfassung die Parlamente vorgesehen. Für diesen Mittelweg macht sich auch Metin Hakverdi stark, der betont, dass er weder alles per Bürgerentscheid noch alles im Parlament entscheiden lassen wolle.
Rückkauf der Energienetze spaltet Wilhelmsburger Bürger
Nach dieser ersten Runde, in der einige der Kandidaten angesichts der Redezeitbeschränkung ihre Argumente geradezu herunterratterten, brachte Hartmut Sauer mit dem Rückkauf der Energienetze ein neues Thema auf den Tisch, zu dem sich Metin Hakverdi und Sabine Boeddinghaus ein vierminütiges Rededuell lieferten. Der SPD-Kandidat Metin Hakverdi argumentiert als Gegner des Netzrückkaufs, dass es ein Fehler gewesen sei die Netze zu verkaufen, es aber auch ein Fehler sei die Netze nun wieder zurückzukaufen. Im Anschluss sprach sich seine Kontrahentin Sabine Boeddinghaus, die behauptet der Netzrückkauf gehe nicht über den Hamburger Haushalt und sei daher eine Möglichkeit die Netze endlich wieder in die öffentliche Hand zurückzulegen, klar für ein Ja zum Netzrückkauf aus. Dieses Argument wies Metin Hakverdi zurück und verwies darauf, dass die genauen Zusammenhänge in der vorgegebenen Redezeit nicht zu erläutern seien. Eine Abstimmung unter den ZuhörerInnen am Ende der Diskussion zeigte, dass die Meinungen über den Netzrückkauf nicht nur unter den PolitikerInnen weit auseinandergehen.
„Neue Migration“ als Herausforderung an die Politik
Ein weiteres Thema war die sogenannte „neue Migration“ und die damit verbundenen Probleme, die von Christiane Tursi vom Stadtteilzentrum Verikom erläutert wurden. Als Hauptproblem für die hauptsächlich aus Osteuropa kommenden Migranten stellte sie dabei die Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch die Bundesregierung und die Krankenversicherungspflicht in Deutschland dar, die viele Migranten in die Verschuldung führe. Anschließend waren die PolitikerInnen aufgerufen eine Statement mit Verbesserungsvorschlägen zur Situation abzugeben. Während Herlind Gundelach der Meinung ist, dass sich das Problem im nächsten Jahr mit der Aufhebung der Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit von selbst löst, fordert Metin Hakverdi „eine europäische Lösung, die da heißt: europäische Integration.“ Für ihn ist das Problem nur durch eine Zusammenarbeit aller EU-Länder zu lösen. Als Sofortmaßnahme gegen die massive Verschuldung vieler Migranten durch Arztrechnungen oder Krankenkassenbeiträge schlägt er die sofortige Einrichtung eines Fonds für Nicht-Versicherte durch die Krankenkassen vor. Manuel Sarrazin fordert zwar eine „unbürokratische und pragmatische Lösung“ lässt allerdings offen, wie diese aussehen soll. Sabine Boeddinghaus hingegen brachte den Mindestlohn als eine mögliche Maßnahme ins Spiel und betont: „Wir müssen als Deutsche dafür sorgen, dass alle den gleichen Zugang haben zu Arbeit, zu Bildung und zum Gesundheitssystem.“ Kurt Duwe hingegen ruft dazu auf die Arbeitsmigration als Chance zu sehen, um den Fachkräftemangel in Deutschland entgegenzuwirken und fordert eine schnellere und einfachere Anerkennung ausländischer Abschlüsse.
Bundesverkehrswegeplan und Hafenquerspange – kontrovers diskutiert
Als letztes Thema setzte Moderator Hartmut Sauer noch den Bundesverkehrswegeplan – und damit auch die in Wilhelmsburg umstrittene Hafenquerspange – auf die Tagesordnung. Nach einer kurzen Einführung von Michael Rothschuh von der Initaitive Zukunft Elbinsel, die sich gegen den Bau der Autobahntrasse und die Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße ausspricht, gab es zu diesem Thema ein Rededuell zwischen Manuel Sarrazin und Herlind Gundelach. Einig sind sich die PolitikerInnen nur darin, dass die Hafenquerspange aller Wahrscheinlichkeit nach nicht durch den Bund finanziert, bzw. gefördert werden wird. Der Grünen Abgeordnete Sarrazin stellt jedoch nicht nur die Finanzierung, sondern auch den Sinn des Projekts in Frage, während die ehemalige Senatorin Gundelach daran festhält, dass eine leistungsfähige Verbindung zwischen der Autobahn 1 und der Autobahn 7 erforderlich sei um den Verkehr vom Wilhelmsburger Zentrum fernzuhalten. Die anwesenden BürgerInnen hingegen machten deutlich, dass die Mehrheit des Stadtteils das Bauprojekt ablehnt.
Fracking, soziale Spaltung und Migration bewegen die Wilhelmsburger
Zum Abschluss hatten die Wilhelmsburger BürgerInnen die Möglichkeit neue Themen ins Gespräch zu bringen und Fragen an die PolitikerInnen zu stellen, die diese in einem vierminütigen Statement beantworten sollten. Besonders interessierte die Wilhelmsburger wie die Politiker zum Thema Fracking stehen und was sie gegen die soziale Spaltung im Stadtteil tun wollen. Auch der Umgang mit Migranten und ihren Problemen bestimmte viele Fragen aus dem Publikum.
Beim Thema Fracking herrscht parteiübergreifende Einigkeit, dass dieses Verfahren in Deutschland nicht angewandt werden soll. Kurt Duwe von der FDP sagt: „Fracking geht nicht.“ Bei den Maßnahmen gegen eine soziale Spaltung des Stadtteils schlug jeder Kandidat einen anderen Weg ein. Metin Hakverdi setzt vor allem auf einen Mindestlohn, Wohnungsbau und generell höhere Löhne, da das Lohnniveau in Wilhelmsburg 25% niedriger sei als im restlichen Hamburg. Zur Migration und vor allem zu den Rechten von Migranten und Asylbewerbern sagt er: „Wir müssen den Schritt schaffen zu sagen: Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft.“ Dem stimmt auch die CDU-Kandidatin Herlind Gundelach zu. Sie betont, zur Überwindung der sozialen Spaltung sei es notwendig deutlich mehr in Bildung zu investieren, da nur so eine gute Ausbildung und ein fester Arbeitsplatz für alle Menschen garantiert werden könne. Der Grünen Abgeordnete Sarrazin griff zum Schluss noch einmal seine wichtigsten Programmpunkte auf und forderte mehr BürgerInnenbeteiligung sowie eine schnelle Umsetzung der Energiewende „hin zu 100% erneuerbaren Energien.“ Sabine Boeddinghaus von der Linken fasste ihre Abschlussbotschaft in kurze Sätze und forderte eine Mindestsicherung, erneuerbare Energien und „gute Arbeit für alle“, sowie eine Reform des Asylrechts in Deutschland. Für diese Positionen erntete sie im Saal viel Applaus. Kurt Duwe setzte den Schwerpunkt in seinem Schlussplädoyer vor allem auf die Migrationspolitik und kritisierte die Linken und die Grünen scharf für ihre Forderungen. Er setzt sich vor allem für die Einführung des Kommunalwahlrechts für Migranten in Hamburg, sowie die Erteilung einer Arbeitserlaubnis während eines laufenden Asylverfahrens ein.
Nach diesem zweistündigen Redemarathon hatten die Zuhörer „einen schönen, bunten Blumenstrauß an Antworten von den Kandidaten erhalten“, wie es Moderator Hartmut Sauer ausdrückte. Einen klaren Sieger gab es jedoch – wie beim TV-Duell – auch am Montagabend in Wilhelmsburg nicht.
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