Im Zweiten Weltkrieg wurden im Stadtteil Rothenburgsort auch Kinder zu Opfern des Nazi-Regimes. Ein Rundgang der KZ-Gedenkstelle Neuengamme zeigt die Orte der Verbrechen und erinnert an einen dunklen Teil der Hamburger Geschichte. Die Historikerin Kristina Vagt führt dabei in die Marckmannstraße, wo Stolpersteine an die Kinder aus dem dortigen Krankenhaus erinnern, und in die Gedenkstätte Bullenhuser Damm.
Dies ist der Erfahrungsbericht von Paul Steffen, der am 17. März 2013 an dem Rundgang teilgenommen hat.
Die blanken Fakten: Zwischen 1941 und 1945 wurden über 50 Kinder wegen ihrer Behinderungen im damaligen Kinderkrankenhaus in der Marckmannstraße getötet. In der ehemaligen Schule Bullenhuser Damm wurden am 20. April 1945 20 jüdische Kinder ermordet, um medizinische Experimente zu vertuschen, die zuvor im KZ Neuengamme an ihnen durchgeführt worden waren. Ein makaberer Zufall: Beide Gebäude, Kinderkrankenhaus und Schule haben das Flächenbombardement der Alliierten von 1943 überstanden, dem viele Menschen und die meisten Gebäude des Stadtteils zum Opfer vielen.
Erstens: Die Idee und ein Ort der so genannten „Kinder-Euthanasie“
Der Rundgang beginnt an der S-Bahn-Station Rothenburgsort und führt durch den Carl-Stamm-Park in die Marckmannstraße 135, wo Stolpersteine an die ermordeten Kinder des ehemaligen Kinderkrankenhauses erinnern. Die achtköpfige Gruppe steht frierend vor dem heutigen Institut für Hygiene und Umwelt und las die Gedenktafel:
„In diesem Gebäude wurden zwischen 1941 und 1945 mehr als 50 behinderte Kinder getötet. Ein Gutachterausschuss stufte sie als ‚unwertes Leben‘ ein und wies sie zur Tötung in die Kinderfachabteilungen ein. Die Hamburger Gesundheitsabteilung war daran beteiligt. Hamburger Amtsärzte überwachten die Einweisung und Tötung der Kinder. Ärzte des Kinderkrankenhauses führten sie durch. Keiner der Beteiligten wurde dafür gerichtlich belangt.“
Die Historikerin und TeilnehmerInnen mit einigem Vorwissen sortieren und ergänzen die schmerzhaften Hintergrundinformationen. Die Idee vom ‚unwerten Leben’ war schon vor dem Nationalsozialismus endstanden. Dieses Regime versuchte aber die systematische Erfassung und Tötung aller so abqualifizierten Kinder. Rothenburgsort war insofern kein Einzelfall. Und offensichtlich war das dunkle Gedankengut soweit in die Ärzteschaft, die Pflegeschwestern und die Bevölkerung eingedrungen, dass sich genügend Personal dafür fand und dass manche Angehörige sich trotz Vorahnung nicht dagegen wehrten, die Kinder weg gaben und später nicht wirklich nachforschten. Erleichtert wurde das durch Lügen der Ärzte und eine besonders grausame Art der Tötung. Diese erfolgte durch Medikamente, die unter das Essen der Kinder gemischt oder als angebliches „Anti-Typhusmittel“ gespritzt wurden, was zu Atemlähmungen, Kreislauf- und Nierenversagen oder Lungenentzündungen führte. So konnte immer eine scheinbar natürliche Todesursache attestiert werden. Die TeilnehmerInnen des Rundgangs schauen zur Wandskulptur mit dem Titel „Mutterliebe“ am Gebäude hoch. Sie zeigt eine Mutter mit Kind innig im Arm. Dann hörten wir fassungslos, wie viele der Ärzte, die dies und Schlimmeres getan hatten, nach dem Krieg wieder als Kinderärzte praktizieren konnten.
Zweitens: Eine Schule zwischen Horror und Aufklärung
Der Rundgang endet in der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, die eine ganz eigene, zuweilen fast ruhige und deswegen auch verstörende Ausstrahlung hat. Gegen Ende der Führung wird uns hier erklärt, dass die Schule im Krieg als Außenlager vom Konzentrationslager Neuengamme zur Schuttaufbereitung genutzt wurde. In einer Nacht- und Nebelaktion wurden zwanzig Kinder mit ihren PflegerInnen im Keller des Gebäudes umgebracht. Als ein junger Teilnehmer des Rundgangs erfährt, dass die Schule nach 1948 wieder als Schule genutzt wurde entfährt ihm ein „Ist ja ekelhaft!“. Tatsächlich wurde erst viel später am selben Ort der Taten gedacht und die jetzige Gedenkstätte eingerichtet. Sehr interessant und gut aufbereitet sind die wenigen biografischen Daten über die Kinder, die so im Nachhinein wieder zu Menschen werden. Ihr damaliger Status als ‚Versuchstiere’ wird deutlich, wenn man das Foto des Opfers Marek James sieht und erfährt, dass er den Arm auf Geheiß der Ärzte so hoch hält, um erste Spuren der Menschenversuche mit eingepflanzten Typhuserregern zu zeigen. Der Horror dieser Umstände ist in der Ausstellung sehr gelungen nicht verdeckt, aber auch nicht noch weiter dramatisierend dargestellt und nicht allgegenwärtig. Vielmehr werden auch die Täter gezeigt, die juristische Aufarbeitung der Morde und vor allem der Kampf einiger engagierter HamburgerInnen und Hinterbliebener um eine würdige Erinnerung. Allein dieses Unterthema einer Auseinandersetzung um eine geeignete Erinnerungskultur ist sehr aktuell und bietet eine Masse spannender Dokumente. Der Rundgang richtete sich an Einzelinteressierte. Gerade die Gedenkstätte Bullenhuser Damm eignet sich aber wirklich hervorragend dazu, mit Jugendlichen dieses schwere Thema zu erschließen.
Getroffen worden aus Zufall: Nun hat mich der Rundgang natürlich mitgenommen und nachdenklich gemacht. Wir TeilnehmerInnen haben auch sporadisch über unsere Ideen und Fragen geredet. Da war von völligem Unverständnis gegenüber den Taten die Rede und über die eigenen Verwandten aus der ‚Tätergeneration’. Wir hatten aber meist erst mal das Gesehene und Gehörte zu bedenken und trennten uns bald. Was völlig unvorbereitet auf mich abends zukam, als ich bei einer Freundin für sie und ihre Tochter kochte, nahm mir kurz den Atem. Die liebe Tochter ist so behindert, dass sie allemal unter das Prinzip der „Selektion unwerten Lebens“ gefallen wäre. Das war mir bis dahin bloß nie aufgefallen.
Der Rundgang wird von der KZ-Gedenkstelle Neuengamme kostefrei angeboten. Information sowie Buchungen von Gruppenführungen an anderen Terminen: Iris Groschek, KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Mail: iris.groschek@kb.hamburg.de
Fotos:Jonas Walzberg
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