Seit Sonnabend sind St. Pauli, die Sternschanze und Teile von Altona Gefahrengebiet. Dafür gibt es spätestens seit gestern keine Berechtigung mehr, findet unser Autor – eine Lagefeststellung.
Die Polizei kann laut Gesetz Gefahrengebiete einrichten, wenn die Situation vor Ort dies aus Sicht der Beamten erforderlich macht. Daher hat die Polizei zu Beginn der Maßnahmen auf St. Pauli und in der Sternschanze am vergangenen Samstag angekündigt, eine ständige Überprüfung der Lage vornehmen zu wollen und täglich neu zu entscheiden, ob die Grundlage für das Gefahrengebiet weiter gegeben ist. Nimmt man der Polizei diese Arbeit einmal ab und betrachtet die derzeitige Situation auf dem Kiez und in der Schanze, kann man nur zu einem Ergebnis kommen: Das Gefahrengebiet muss sofort beendet werden!
Die Krawalle vom 21. Dezember können nicht mehr als Begründung für das Gefahrengebiet herhalten. Die Vorfälle liegen inzwischen mehrere Wochen zurück, ein großer Teil der DemonstrantInnen, der von außerhalb Hamburgs gekommen war, ist längst wieder Zuhause. Auch ein mutmaßlicher Angriff auf die Davidwache am 28. Dezember kann das derzeitige Gefahrengebiet nicht länger rechtfertigen. Erstens gibt es inzwischen Zweifel daran, dass der Angriff tatsächlich so stattgefunden hat wie es von der Polizei geschildert wurde, zweitens kann das Ziel die Davidwache zu schützen auch ohne die derzeitigen Maßnahmen erreicht werden – auf der Reeperbahn gilt sowieso ein ständiges Gefahrengebiet. Dass es verletzte Polizisten gegeben hat, ist nicht zu bestreiten. Auch diese Vorfälle liegen inzwischen jedoch über eine Woche zurück und dürfen bei einer täglichen Lagebeurteilung nur noch eine geringe Rolle spielen.
Auch die Proteste der vergangenen Tage sind kein Grund das Gefahrengebiet aufrecht zu erhalten. Sieht man einmal davon ab, dass es die Aktionen auf St. Pauli und in der Sternschanze nur gibt, weil das Gefahrengebiet besteht – ansonsten gäbe es keinen Grund dagegen zu demonstrieren – waren die Proteste weitestgehend friedlich. Spätestens nach der Demonstration von rund 600 Menschen gegen das Gefahrengebiet am Dienstag, bei der es keinen einzigen Zwischenfall gab, muss das Ergebnis einer täglichen Lagefeststellung lauten: Das Gefahrengebiet muss sofort beendet werden.
Behält die Polizei weiterhin besondere Maßnahmen und setzt die Kontrollen fort, ist das ein nicht gerechtfertigter Eingriff in die Grundrechte der HamburgerInnen. Die angekündigten „Kontrollen mit Augenmaß“ haben sich längst als Farce herausgestellt und viele AnwohnerInnen beklagen sich über das Vorgehen der Polizei. Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage auf St. Pauli und in der Sternschanze muss die SPD sich nicht wünschen die Notwendigkeit für das Gefahrengebiet wäre nicht gegeben – sie ist es nicht. Für Innensenator Michael Neumann (SPD) wird es daher Zeit seine Polizei anzuweisen das Gefahrengebiet aufzulösen. Das ist nicht nur aufgrund der Lage geboten, sondern würde auch die aufgeheizte Stimmung etwas abkühlen und es ermöglichen, friedlich und konstruktiv an die politischen Probleme dieser Stadt heranzugehen – sofern der Innensenator eingestehen kann, dass es diese wirklich gibt.
kurzgeschnitten
8. Januar 2014 at 12:24
AN:
Olaf Scholz
Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg
Rathausmarkt 1
20095 Hamburg
olaf.scholz@sk.hamburg.de
Michael Neumann
Behörde für Inneres und Sport
Johanneswall 4
20095 Hamburg
michael@neumann-hamburg.de
SPD Bürgerschaftsfraktion
Rathaus
Rathausmarkt 1
20095 Hamburg
info@spd-fraktion.hamburg.de
Sehr geehrter Herr Bügermeister Scholz,
sehr geehrter Herr Neumann,
sehr geehrte Damen und Herren,
ich wende mich mit einem offenen Brief an Sie, obwohl mir im Grunde die Worte fehlen. Aus fassungslosen Augen sehe ich mit an, was in dieser Stadt, die ich mein Zuhause nenne, vor sich geht.
Vielleicht nicken Sie bereits innerlich zustimmend, aber Vorsicht: Ich bin sicher, Sie teilen meine Auffassung nicht. Diesen und keinen anderen Schluss lässt die von Ihnen betriebene Politik zu.
Die Partei, der Sie angehören, deren Werten Sie sich verschrieben haben, so unterstelle ich, steht (angeblich) für Gerechtigkeit und Freiheit.
Die Vorgänge in dieser Stadt haben weder mit dem einen noch mit dem anderen viel zu tun.
Wie ich zu dieser Ansicht komme, will ich Ihnen gerne erklären.
Es steht außer Frage, dass Angriffe auf Menschen – übrigens unabhängig von der Berufsgruppe, der sie angehören – geahndet werden müssen und nicht tolerierbar sind. Die Einrichtung eines weiträumigen Gefahrengebietes allerdings, so wie es hier seit dem 04. Januar 2014 und bis auf weiteres Gültigkeit zu haben scheint, entbehrt jeglicher Verhältnismäßigkeit.
Sicher, nicht Sie richten Gefahrengebiete ein und haben nicht einmal die gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, die noch aus den nicht weniger unseligen Zeiten von Schill und von Beust stammt.
Was Sie aber tun ist, sich Ihrer Verantwortung zu entziehen. Sie haben die Verantwortung für die Bürger dieser Stadt und lassen zu, dass ein ohnehin fragwürdiges Gesetz, nämlich § 4 Abs. 2 PolDVG, unkontrolliert Anwendung findet.
Selbst wenn man der Entscheidung des Verwaltungsgerichts aus 2012 zustimmt, dass bei einer restriktiven Auslegung die Verfassungskonformität gegeben sei, kann im aktuellen Fall von einer restriktiven Auslegung nicht mehr die Rede sein.
Faktisch stellt die Polizei und mittelbar auch Sie, da Sie breite Unterstützung gewähren, tausende Einwohner dieser Stadt unter Generalverdacht. Sie entheben die Bürger ihres Anspruchs, von polizeilichen Maßnahmen unbehelligt zu bleiben. Die Durchführung und Umsetzung der Maßnahmen durch die Polizei in dem ausgewiesenen Gebiet wird durch keine weitere, geschweige denn höhere, Instanz kontrolliert.
Das bedeutet, die Polizei schaltet und waltet nach freiem Ermessen in einem Gebiet, das annähernd vier Stadtteile vollständig umfasst. Die ersten Berichte von Betroffenen sind bereits im Internet zu lesen. Es hat den Anschein, die Polizei nimmt die gesetzlichen Vorgaben zuweilen nicht allzu ernst.
Nun, dass als Grund und/ oder Rechtfertigung für die Errichtung dieses Gefahrengebietes die Gewalt gegen Beamte und Dienststellen herangezogen wird, mag für Sie auf den ersten Blick Grund genug sein, den Beamten eine breit aufgestellte Unterstützung zuzusichern.
Und ich wiederhole gern an dieser Stelle, Gewalt gegen Menschen ist nicht zu dulden und muss Konsequenzen nach sich ziehen.
Diese Konsequenzen jedoch müssen verhältnismäßig sein.
Im Übrigen frage ich mich bereits seit einer geraumen Weile, wie es kommt, dass Sie in Ihrem politischen Wirken offenbar vermehrt auf die Eskalationsstrategie setzen. Wirklich, ich verstehe es nicht. Was meinen Sie, wem das nützt?
Der Stadt? Ihnen? Den Bürgern?
Ich wage die vermessene Behauptung, weder noch.
Angefangen bei der Gentrifizierungsproblematik über den Umgang mit den Lampedusa-Flüchtlingen über die Demonstration vom 21. Dezember 2013 bis hin zur jetztigen Lage haben Sie wenig getan, was die Situation der Stadt entspannt oder gar die Gemüter beruhigt hätte.
Ich will mich gar nicht damit aufhalten, Ihnen ein weiteres Mal auseinanderzusetzen, dass die Möglichkeit eines Aufenthaltsrechts nach § 23 bestünde.
Ebensowenig will ich hier darauf eingehen, wie der Umgang mit den Esso-Häusern und der Gentrifizierung verschiedener Stadtteile insgesamt zu bewerten ist.
Woran ich aber einige Worte verlieren muss, ist die Art und Weise, wie – auch in Ihrem Blog, Herr Neumann – Bilder der hier lebenden Menschen gezeichnet werden.
Sie und auch die von Ihnen unterstützte Polizei werden nicht müde, Menschen, die ihre Stimme erheben zu diffamieren.
Glauben Sie ernsthaft daran, dass am 21. Dezember zwischen 6.000 und 10.000 Autonome an der Roten Flora standen, um ihr Recht auf Versammlungsfreiheit auszuüben?
Halten Sie nicht für denkbar, dass die Masse der Demonstranten friedlich für ihrer Meinung und ihre Rechte im Zuge einer genehmigten Demonstration einstehen wollte?
Nein, Sie halten es nicht für denkbar und ja, Sie scheinen zu glauben, jeder Demonstrant in dieser Stadt ist per se ein linksextremer Gewalttäter.
Es ist nicht nur ein trauriges Bild, das Sie da von sich und Ihrer Partei zeichnen. Mehr noch ist es schändlich.
Inzwischen ist bekannt, dass die Eskalation der Demonstration vom 21. Dezember 2013 nicht von den Demonstranten ausging, wie Sie und der von Ihnen unterstützte Polizeiapparat mehrfach kolportiert haben.
Ich will mich nicht darin ergehen, die Frage der vermeintlichen Schuld auseinander zu dividieren. Dafür sollte die für heute anbraumte Senatssitzung genutzt werden. Fraglich ist, ob das Ergebnis Wahrheitsgehalt hat.
Apropos Wahrheitsgehalt, da fällt mir der zweite Angriff auf die Davidwache Ende Dezember ein. Die Polizei räumt offenbar inzwischen ein, die dazu herausgegebene Pressemitteilung sei fehlerhaft gewesen.
Nun, Menschen machen Fehler. Und lernen im Idealfall daraus.
Sie könnten aus den Fehlern der vergangenen Wochen lernen, dass es sinvoller ist auf eine Deskalationsstrategie zu setzen.
Sie könnten lernen, dass es an der Zeit ist, ein fragwürdiges Gesetz zu novellieren.
Sie könnten lernen, dass diese Stadt nicht zur Ruhe kommen wird, wenn Sie sich weiterhin Ihrer Verantwortung und einer gerechten wie freiheitlichen Politik entziehen.
Ich will es Ihnen noch einmal an einem ganz einfachen Beispiel verdeutlichen:
Mein Wintermantel ist schwarz. Meine Hosen sind schwarz. Meist führe ich eine schwarze Tasche mit mir. Ich trage eine Mütze und einen Schal gegen die Kälte. Damit erfülle ich schon ausreichend Verdachtsmerkmale um in eine Kontrolle zu geraten, wenn ich mich auf dem Weg von meinem Arbeitsplatz nach Hause befinde. Ich kann gar nicht anders, aufgrund seiner Weiträumigkeit, als durch das Gefahrengebiet zu gehen. Nun frage ich Sie, warum muss ich mich damit auseinandersezten, ob ich kontrolliert, des Platzes verwiesen oder mir der Aufenthalt untersagt, meine Tasche in Augenschein genommen werden könnte?
Es geht nicht darum, ob ich etwas zu verbergen habe, wie so oft und gern argumentiert wird. Es geht darum, dass die von Ihnen unterstützte Polizei mich kriminalisiert, mir unterstellt, ich täte etwas gesetzeswidriges.
Das ist ein nicht haltbarer Zustand. Und es ist Ihre Verantwortung dem etwas entgegenzusetzen. Sie haben die Verantwortung für die Bürger in dieser Stadt. Nehmen Sie sie endlich und im Sinne der Verfassung wahr!
Das Internet hat überwiegend Spott und Häme für die Errichtung des Gefahrengebiets übrig. Mir ist das Lachen längst vergangen. Als zu beunruhigend empfinde ich die Entwicklung, mit der in die Grund- und Freiheitsrechte der Hamburger Bürger eingegriffen wird und Sie als Regierende sich außerstande sehen, die Verhältnisse zu erkennen und im Sinne Ihrer Wähler und Bürger eine freiheitliche Gerechtigkeit herzustellen.
Mit freundlichen Grüßen
Pingback: Make love, not Gefahrengebiet! | von der leine an die elbe
Susanne
8. Januar 2014 at 18:40
Wer hat das geschrieben, einer der nicht weis was los war. Ich würde begrüßen, wenn nicht immer Lügen behauptet werden. Man erlebt die Eskalationen von den Chaoten hautnah mit. Alles wird auf die Polizei geschoben, es entspricht nicht der Wahrheit. Selbst ich habe es mit meinen Augen gesehen, warum die Eskalation los ging. Also sind die Diskussionen überflüssig. Der schwarze Blog oder wie man das nett, sind für mich Straftäter, die es absichtlich auf Menschen abgesehen haben, sowie auf fremdes Eigentum. Schaut Mal die Schäden an, wie hoch der Betrag ist, wer muss das zahlen, diejenigen, die das verbockt haben ja nicht. Ich bin ja gespannt, wann es den ersten Toten gibt, weil die Chaoten davor wohl auch nicht zurück schrecken. Das Gefahrengebiet finde ich auch etwas übertrieben, aber ich habe ich schwarz an und wurde noch nicht kontrolliert. Aber ich finde eine Streife im jetzigen Gefahrengebiet ausreichend. Es ist zum Schutze der Bürger und nicht um irgendwas zu provozieren. Denkt mal nach. Wir wollen Ruhe und nicht Angst haben in irgendwelche Krawalle zu kommen, womöglich noch im Krankenhaus landen. Schämt euch.
Georg
8. Januar 2014 at 22:43
Rathaus ist neue Gefahrenzone …
http://ambulanz.kunststelle.de/?p=194&tb_content=true&keepThis=true
campnagel
9. Januar 2014 at 01:18
Schreiben von Kampnagel an den Oberbürgermeister Olaf Scholz und Innensenator Michael Neumann:
Vom Sandkastenstreit zum Gefahrengebiet
Lieber Olaf, lieber Michael,
einen besonders schönen Neustart ins Jahr 2014 habt ihr uns leider nicht beschert.
Große Teile des Hamburger Stadtgebiets sind seit dem Wochenende und auf unbestimmte Zeit „Gefahrengebiet“, Bürgerrechte werden damit ausgehebelt, Platzverweise und Durdhsuchungen gehören zur neuen Tagesordnung.
In Hamburg hat nun eine Polizei die Hoheitsmacht, die aus kritischen Polizeikreisen — als „eine Ordnungsmacht des finsteren Mittelalters“ bezeichnet wird. (vgl. Pressemitteilung Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten vom 05.01.2014).
Wir wundern uns, Olaf und Michael: Was ist denn los mit Euch? Woher dieser Kontrollwahn, diese Aufrüstung der Polizei?
Da werden frühkindliche Erinnerungen vom Spielplatz bei uns wach, wenn ein anderes Kind uns die Schaufet entrissen hat. Zugegeben, da wollten auch wir mal zuschlagen und die Faust ballen, um unsere Schaufel zurückzubekommen. Kontrolle zurückgewinnen. Klar machen, wer Chef ist.
Aber mal ehrlich, hat uns das jemals wirklich weitergebracht? Im Zweifel gab es doch eher Sachverluste in Form von kaputten Schaufeln.
Heute riskiert ihr statt kaputten Schaufeln lieber Bürgerrechte und gebt Eure Aufgaben als Politiker an eine aufgeputschte Polizei ab. Statt Gespräche zu führen mit Flüchtlingen, mit Menschen aus dem Umfeld der Roten Flora und der Esso-Häuser-Initiative gibt es eine mediale Hetze (ja, liebe Mopo, liebes Abendblatt, wo sind eigentlich eure kritischen Journalisten?) gegen linke Aktivisten und harmlose Anwohner, die mit Krawall gleichgesetzt werden. Die Stimmung auf St. Pauli erinnert an einen Polizeitstaat — hier einige Tipps für den Umgang mit der Polizei für unsere Leserinnen und Leser.
Wir wünschen uns ein Hamburg der Abrüstung statt der immer weiteren Aufrüstung — Gespräche statt Pfefferspray. Zugegeben Putin und Erdogan haben euch gelobt — aber wollt ihr das? Dann wär’s das wohl mit unserer Freundschaft.
Wir empfehlen euch: Werdet Softies! Noch ist es nicht zu spät, wir sind auch nicht nachtragend! Gebt die Schaufel zurück und vielleicht wollen wir dann auch wieder mit euch spielen.
Wie wäre es zum Beispiel mit einem Austausch bei uns auf Kampnagel? Mal eine Runde ausquatschen mit allen Beteiligten. Wir backen auch extra einen Kuchen, Versprochen.
In diesem Sinne: MAKE LOVE NOT GEFAHRENGEBIET!
Dein Kampnagel
(Kürzung, Veröffentlichung: Occupy Hamburg)