Seit der vergangenen Woche kann die Stadt leer stehenden Gewerberaum beschlagnahmen, um geflüchtete Menschen unterzubringen. Ein längst überfälliger Schritt, der aber nicht weit genug geht, findet Isabella David.
„Leerstand zu Wohnraum“ – mit einem Gesetz, dass in der vergangenen Woche von der Hamburgischen Bürgerschaft beschlossen wurde, wird diese Forderung endlich umgesetzt. So könnte man jedenfalls meinen. Denn mit dem „Gesetz zur Sicherung der Flüchtlingsunterbringung in Einrichtungen“ kann die Stadt ab sofort und befristet bis März 2017 leer stehende Gewerbeimmobilien beschlagnahmen, um geflüchtete Menschen unterzubringen.
Schluss mit Leerstand?
Seit Jahren trägt die „Recht auf Stadt“-Bewegung die Forderung, Leerstand zu Wohnraum zu machen, auf die Hamburger Straßen. Immer wieder haben Aktivisten mit Demonstrationen und kurzzeitigen Besetzungen auf dauerhafte Leerstände im Stadtgebiet aufmerksam gemacht. Auf Plattformen wie dem Leerstandsmelder kann jeder vermerken, wenn in seiner Nachbarschaft Wohnhäuser oder Gewerbeimmobilien ungewöhnlich lange leer stehen. „Halb Hamburg steht leer“ ist nicht umsonst ein weiterer Slogan der Bewegung geworden. Wer beim Leerstandsmelder auf Hamburg klickt, findet die Stadt verdeckt von zahlreichen roten „Leer“-Markierungen, Büroräume, Gewerbeimmobilien und sogar Wohnhäuser, die zum Teil seit Jahren leer stehen. Darunter sind auch Wohnungen der SAGA.
Damit ist jetzt Schluss, könnte man jedenfalls meinen. Doch die Stadt sucht ganz gezielt leer stehende Lagerhallen. Alte Baumärkte werden kurzerhand umfunktioniert, um geflüchtete Menschen unterzubringen. Mit dem Gesetz positioniert sich Hamburg bundesweit als politischer Vorreiter, Kritiker betrachten das Gesetz als tiefen Einschnitt in die Eigentumsrechte.
Massenunterkünfte in Hallen sind keine Lösung
Die Realität ist eine andere: Wenn mit dem Gesetz nun in erster Linie große Hallen gesucht und beschlagnahmt werden, bleibt die Stadt nicht nur weit hinter ihren Möglichkeiten zurück, sie verschärft die Situation für geflüchtete Menschen und Helfer in der ganzen Stadt zusätzlich. Es greift viel zu kurz, jetzt nur leer stehende Hallen – meist in den Hamburger Randbezirken – zu beschlagnahmen, um Geflüchtete unterzubringen.
Massenunterbringungen, wie in einem ehemaligen Baumarkt in Bergedorf oder Eidelstedt zeigen, dass diese Immobilien oftmals nicht mal grundlegende Bedingungen erfüllen. Die Menschen sind auf engstem Raum untergebracht, es gibt keinerlei Privatsphäre und Sichtschutz, oftmals gibt es auch nicht genügend Sanitäranlagen.
Hier offenbart sich, was Ehrenamtliche bereits seit Wochen aus unterschiedlichen Einrichtungen berichten – das Chaos regiert. So gab es beim Einzug mehrerer Hundert Flüchtlinge in einen alten Baumarkt in Eidelstedt am Sonntag nicht mal Betten, geschweige denn Duschen oder genügend Toiletten. Tausende Menschen werden in den Hallen untergebracht, in Bergedorf kommt es zu Protesten gegen die Unterbringung. Zahlreiche Flüchtlinge weigern sich sich, unter diesen Umständen in der Halle zu schlafen. In vielen Großunterkünften kommt es aufgrund der Umstände zu Konflikten und Gewalt. Schutz- und Rückzugsräume gibt es nicht, sexuelle Übergriffe gegen Frauen in den Einrichtungen nehmen zu.
Hallen sind keine Lösung
Dass der Senat weiterhin auf Massenunterkünfte setzt, zeigt wie überfordert die Stadt mit aktuellen Situation ist. Umdenken ist gefragt: Nicht nur große Hallen stehen leer, sondern auch Büroräume und sogar Wohnungen.
Wie können wir verantworten, dass Menschen zu Hunderten in ungeeigneten Hallen untergebracht werden oder in Zelten schlafen müssen, während Wohnungen in dieser Stadt leer stehen? Wieso nutzen wir nicht wenigstens leere Büroräume, die mit Sanitäranlagen und Heizungen ausgestattet sind? Warum vereinfachen wir nicht die private Aufnahme von geflüchteten Menschen, in zahlreichen, leer stehenden Zimmern in Hamburg?
Mitmenschen leben nebenan, nicht im alten Baumarkt
Der Winter steht vor der Tür und wir müssen reagieren, mehr als dringend. „Lager“ in Hallen und anderen Großeinrichtungen können auf Dauer keine konfliktfreie und menschenwürdige Unterbringung darstellen. Es muss Schluss sein mit dem Prinzip Chaos. Geflüchtete Menschen sind kein „Problem“, das wir an den Stadtrand schieben können. Asyl ist kein Prinzip der Gnade. „Hauptsache irgendein Dach über dem Kopf“, kann nicht unser Maßstab für die Unterbringung von geflüchteten Menschen in Hamburg sein.
Die Stadt muss endlich ermöglichen, dass die Hamburger ihre Türen öffnen können, um private Leerstände zu nutzen. Der Leerstand von Wohnraum muss aktuell mehr denn je deutliche Konsequenzen haben. Flüchtlinge sind unsere Mitmenschen, bringen wir sie endlich auch da unter, wo unsere Mitmenschen leben – in unserem Viertel, unserer Nachbarschaft, im Zimmer nebenan.
Fritz.
8. Oktober 2015 at 23:21
Das „Prinzip Chaos“ scheint mir ein Stück weit unvermeidlich in einer ziemlich chaotischen Situation. Wer hätte im Januar erwartet, dass jeden Tag hunderte Flüchtlinge neu nach Hamburg kommen – und irgendwie untergebracht sein wollen und müssen? Es ist ja nicht so, dass in der Stadt ein Herr an Organisationstalenten und Sozialarbeitern Däumchen drehend in der Ecke saß oder sitzt und auf Aufgaben wartet, dass haufenweise geeignete Unterkünfte leerstehen und so weiter.
Natürlich wäre es besser, auf Zelte oder gar Obdachlosigkeit zu verzichten. Mehr als nebulöse Vermutungen zum Leerstand geeigneter Flächen scheint es aber auch nicht zu geben. Was heißt denn überhaupt „geeignet“? Sollen wir Flüchtlinge in leer stehende Bruchbuden einquartieren? In Büro-Mehrgeschosser ohne Duschen? Wie viele freie Zimmer brauchen wir für spürbare Lösung, wenn jeden Tag hunderte weiterer Menschen eins benötigen?
Jede Abhilfe ist natürlich besser als keine. Aber ernsthaft: kriegen wir mit diesen Ideen wirklich eine Lösung hin oder nur mit organisatorischem Ressourcenaufwand ein Kleinklein in einer Dimension, die eine Woche später schon wieder von den Geschehnissen überrollt wird?
Isabella David
9. Oktober 2015 at 10:40
Angesichts der Situation, insbesondere in Syrien, hätten EU, Bundesregierung und in der Konsequenz auch den Bundesländern, aus meiner Sicht durchaus bewusst sein müssen, dass viele Menschen flüchten werden. Die Überforderung ist hausgemacht. Das „Prinzip Chaos“ von dem ich hier rede, beschreibt vor allem Handlungen und Pannen, die die Situation weiter verschlimmern (z.B. nächtliches Umquartieren geflüchteter Menschen, während in der neuen Unterkunft weder Betten noch Duschen vorhanden sind, vor Ort nur Security und Ehrenamtliche, die davon mitbekommen haben).
Sie schreiben, dass wir Flüchtlinge nicht in leer stehende Bruchbuden einquartieren sollen – haben Sie aktuelle Bilder aus den umfunktionierten Baumärkten gesehen, insbesondere in Eidelstedt? Keine Betten und Duschen, zu wenig Toiletten, auch sauber gemacht wurde zum Teil vorher nicht gründlich, es gibt keinen Sichtschutz, keine Schutzräume. Es ist bekannt (siehe oben im Text verlinkter NDR Beitrag), dass in Hamburg sogar SAGA Wohnungen leer stehen, die genutzt werden könnten. Im übrigen bin ich der Überzeugung, dass eine vorläufige Unterbringung in umfunktionierten Bürokomplexen, in denen es Heizungen, Toiletten und oft auch Duschen gibt, deutlich würdiger wäre, als weiterhin auf Massenunterkünfte in ungeeigneten Hallen zu setzen.
Fritz
9. Oktober 2015 at 13:46
Widerspruch: Der Syrien-Krieg ist nicht erst gestern ausgebrochen und auch nicht der erste Konflikt um Deutschland herum. Bei anderen Krisen kam es in der Vergangenheit eben nicht zu diesem großen Andrang. Ebenso lässt sich gut fragen, warum in benachbarten europäischen Ländern eben deutlich weniger Flüchtlinge ankommen, beispielsweise in Frankreich oder Polen. So argumentiert, hätte Deutschland seit Jahrzehnten mehrere hunderttausend Plätze für Flüchtlinge präventiv vorhalten müssen – für Menschen aus Afghanistan während des Afghanistankrieges, für Menschen aus dem Irak während des Irakkrieges, für Menschen aus Nordafrika während des Arabischen Frühlings und so weiter.
Und genauso müssten andere europäische Länder gerade präventiv Kapazitäten für mehrere hunderttausend Menschen aufbauen. Tun sie übrigens nicht – die Lage da hat sich ja auch nicht ansatzweise so sehr verschärft wie in Hamburg.
Das „Prinzip Chaos“ lässt sich dann eben vielleicht auch einfach nicht vermeiden, wenn man Anfang der Woche noch gar nicht weiß, für wieviel tausend weiterer Menschen bis Ende der Woche wieder ein Dach über dem Kopf geschaffen werden muss. Wo das dann stattfinden kann, noch völlig dahingestellt – das weiß ja auch wieder keiner. Es gibt keine Reserven mehr, die man spontan abrufen könnte. Dass die Lage dann chaotisch wird, ist ebenso beschissen für die Betroffenen wie vorprogrammiert.
Den Baumarkt in Bergedorf habe ich gesehen. Sie schlagen hier ja die Unterbringung in leerstehenden Wohnungen vor. Das sind teilweise Bruchbuden, die abrissreif somd oder schon vom Statiker gesperrt wurden, glaubt man den Kommentaren beim Leerstandsmelder, auf den Sie verweisen. Der ehemalige Max Bahr Markt hat dagegen eine hervorragende Bausubstanz. Da lief bis vor kurzem ein Baumarkt drin, das Gebäude wurde geheizt und instand gehalten. Dreckig war es, Sichtschütze fehlen, klar, es ist eine Handelsfläche, die NIE zur Unterbringung von Menschen gedacht war. Aber lieber bringe ich Menschen dort unter als in Gebäuden, die seit 5 oder mehr Jahren leer stehen und seitdem bestenfalls den Baustatiker zu Besuch hatten.
Dass bei der SAGA Wohnungen leerstehen, dass es passende Büroflächen gibt – ich will es nicht bestreiten. Nur, sagen Sie mir: wieviel seit Jahren leere SAGA-Wohnungen brauche ich, um nur die Baumärkte in Eidelstedt, Lurup, Neugraben und Bergedorf mit insgesamt einigen tausend Flüchtlingen umzuquartieren?
Das passt alles von den Dimensionen her nicht mehr. Diese Leerstände sind keine nachhaltige Lösung angesichts von mehreren zehntausend Flüchtlingen dieses Jahr und mehreren hundert weiteren Menschen jeden Tag.
Fritz.
8. Oktober 2015 at 23:29
PS:
Der „Leerstandsmelder“ scheint mir auch nicht eben gut gepflegt. Einige „leere“ Häuser sind längst abgerissen und die Bagger kreisen für Neubauten an gleicher Stelle. Tierparkallee 26 kenne ich zufällig ganz gut, ich wohne 400 m weiter. Das „leere Haus“ gibt es nicht mehr, an der Stelle leben seit Jahren schon etliche Leute im später errichteten Neubau.
Da hat seit 2010 einfach niemand mehr geguckt.
Pingback: Wochenrückblick: Berlin grätscht dazwischen
Norbert
16. Oktober 2015 at 14:03
Kommentar dazu:
Wieviel „echten Leerstand“ hat Hamburg? Bitte recherchieren!
Laut Bürgermeister Scholz waren diese Woche noch 4.100 Flüchtlinge in unbeheizten Zelten untergebracht. Das ist noch schlimmer als eine Baumarkthalle. In denen sind auch über 4.000 Menschen. Insgesamt also über 8.000 Menschen. Wenn ich pro Flüchtlinge 15 m² Fläche nehmen will (inkl. Sanitärräume, Flure, Küchen etc.), dann brauche ich schon jetzt über 120.000 Quadratmeter für einen minimalen Standard.
Plus 200 Flüchtlinge netto neu pro Tag ergibt einen Zusatzbedarf von weiteren 21.000 m² pro Woche.
Ist das im Leerstand an herrichtbaren Büroräumen verfügbar oder alles nur eine Phantomdebatte?!