Die Einrichtung von Gefahrengebieten ist verfassungswidrig. Dies entschied das Hamburgische Oberverwaltungsgericht am Mittwoch. Die Maßnahme, die der Polizei verdachtsunabhängige Kontrollen in den Sonderzonen ermöglicht, verstößt demnach gegen die Grundrechte.
Es ist der 30. April 2011. Walpurgisnacht in Hamburg. Claudia Falke ist am späten Abend mit drei Bekannten auf der Eifflerstraße unterwegs, zu Fuß geht die Gruppe in Richtung Schulterblatt. An der Einmüdung der Eifflerstraße zum Schulterblatt steht ihnen eine Polizeikette gegenüber. Claudia Falke wird von den einigen Polizeibeamten angehalten, ihre Identität überprüft. Sie händigt den Polizisten ihren Personalausweis aus. Eine Beamtin will einen Blick in ihren Rucksack werfen, greift jedoch auch auch hinein, bewegt die Gegenstände im Rucksack. Heraus nimmt sie diese nicht. Schließlich wird ein Aufenthaltsverbot gegen Falke ausgesprochen, sie soll das Schanzenviertel verlassen. Als sie dem nicht nachkommt, wird sie von den Beamten in Gewahrsam genommen. Erst um 3 Uhr morgens darf sie schließlich nach Hause gehen.
Die Geschichte von Claudia Falke ereignete sich im „Gefahrengebiet Walpurgisnacht 2011“. Begründet hatte die Hamburger Polizei die Einrichtung des Gefahrengebiets im Schanzenviertel mit erwarteten Ausschreitungen in der Nacht zum 1. Mai. 2008 und 2009 sei es in der sogannten Walpurgisnacht im Anschluss an eine angemeldete Demonstrationen zu Ausschreitungen rund um die Sternschanze gekommen.
Auch für den 30. April 2011 war im Schanzenviertel eine Demonstration angemeldet. Das Gefahrengebiet sollte Ausschreitungen wie Sperrmüll und Müllcontainer als Barrikaden auf den Straßen und gezielte „Entglasungen“ von Geschäften verhindern. Die Einrichtung eines temporären Gefahrengebiets ermöglichte es den Beamten verdachtsunabhängige Kontrollen im Schanzenviertel durchzuführen. Als Zielgruppe galten Personen, von denen potentiell Straftaten ausgehen könnten. Genauer: Menschen, die man aufgrund ihres Äußeren dem „linken Spektrum“ zuordnen könne. Das traf aus Sicht der Beamten auch auf Claudia Falke zu. Die Hamburgerin entschließt sich, juristisch gegen die Maßnahme vorzugehen.
Die Kontrolle war verfassungswidrig
Seit Mittwoch steht fest, dass die Feststellung ihrer Identität und die Kontrolle des Rucksacks rechtswidrig waren. So urteilte das Hamburgische Oberverwaltungsgericht. Das Gericht sieht auch das ausgesprochenene Aufenthaltsverbot sowie die anschließende mehrstündige Ingewahrsamnahme als rechtswidrig an. Die Festlegung der Personengruppen sei „willkürlich und zu weitreichend“ gewesen, heißt es in dem Urteil von Mittwoch. Die Feststellung der Identität sei nicht erforderlich gewesen und bei der Kontrolle des Rucksacks habe es sich zudem um eine Durchsuchung und nicht nur eine Inaugenscheinnahme gehandelt. Auch die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsverbot und eine Ingewahrsamnahme seien nicht erfüllt gewesen.
Besonders bemerkenswert aber ist: Das Gericht hält die gesetzliche Grundlage für die Ausweisung von Gefahrengebieten an sich für verfassungswidrig. Die Rechtsgrundlage verstoße gegen das Wesentlichkeitsgebot, den Bestimmtheitsgrundsatz und das Übermaßverbot. Mit dem Urteil stellt das Hamburgische Oberverwaltungsgericht eindeutig klar, dass die bisherige Form der Anwendung von Gefahrengebieten nicht mit der Verfassung vereinbar ist.
Ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechte
Die Feststellung der Identität der sowie die Inaugenscheinnahme mitgeführter Sachen greife in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Außerdem können bei einer Kontrolle in einem Gefahrenbiet das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die allgemeine Handlungsfreiheit sowie das Recht auf Freiheit einer Person betroffen sein. Auch dies sind Grundrechte.
Besonders kritisch sieht das Oberverwaltungsgericht die Speicherung der personenbezogenen Daten im Anschluss an eine Kontrolle, zumal hier gleich eine Vielzahl an Informationen erfasst werden, die in den Schutzbereich des Grundrechts fallen: Bei einer Kontrolle im Gefahrengebiet wird nicht nur festgehalten, wer sich wann und wo aufgehalten hat, sondern auch, wie er sich dabei verhalten hat, mit wem er unterwegs gewesen ist und welche Sachen derjenige dabei hatte. Bereits die Ausweisung eines Gefahrengebiets kann sich aus Sicht der Juritsten auf die unbehelligte Ausübung der Grundrechte auswirken, da sie zur Verhaltenssteuerung geeignet ist.
Gefahr eines dauerhaften polizeirechtlichen Ausnahmezustands
Laut dem Gericht besteht die Gefahr, dass „diffuse Anhaltspunkt“ gefunden werden, um die Grundrechte durch ein Gefahrengebiet im Vorfeld möglicher Straftaten einzuschränken. Besonders kritisch sieht das Oberverwaltungsgericht, dass sich die Einrichtung der Gefahrengebiete bisher allein auf die „konkreten Lageerkenntnisse“ der Polizei selbst gestüzt hat. Diese Erkenntnisse würden jedoch nicht nur tatsächliche Gesichtspunkte, sondern auch Bewertungen enthalten, die damit zum einzigen Maßstab für eine Rechtseingriff werden. Die Polzei bestimme damit die nähreren Voraussetzungen eines Eingriffs, obwohl dies Aufgabe des Gesetzgebers ist. Eine anschließende Überprüfung der Maßnahme durch Gerichte sei inhaltslos, da allein eine polizeiliche Bewertung der Maßnahme für die Einrichtung eines Gefahrengebiets vorliegen muss.
Die Ausweisung eines Gefahrengebiets ist nach dem Gesetz zeitlich unbeschränkt möglich. Das Gefahrengebiet „Gewaltkriminalität“ im Vergnügungsviertel St. Pauli besteht seit Juli 2005. Abgesehen davon, ob dies über einen so langen Zeitraum zulässig oder verhältnismäßig ist, müssten solchen Entscheidungen vom Gesetzgeber getroffen werden. Es dürfe nicht allein der Verwaltung überlassen werden, ob und für wie lange ein Gefahrengebiet eingerichtet wird. „Andernfalls könnte in bestimmten Gebieten dauerhaft der polizeirechtliche Ausnahmezustand verhängt werden, ohne dass dies durch entsprechende gesetzgeberische Entscheidung gedeckt ist“, heißt es in dem Urteil. Bisher kann die Polizei überall dort ein Gefahrengebiet ausweisen, wo sie es selbst aufgrund eigener Einschätzung für angebracht hält. Eine konkrete, überprüfbare Gefahr muss hierfür nicht vorliegen.
Stigmatisierende Kontrollen im Gefahrengebiet
Das auf eine bestimmte Personengruppe zugeschnittene Kontrollkonzept führe dazu, dass mit jeder öffentlichenKontrolle eine stigmatisierende Wirkung verbunden ist. Die Auswahl einer Person durch die Polizei drücke aus, dass dieser in gesteigertem Maße zugetraut wird, „eine Straftat von erheblicher Bedeutung“ zu begehen. Besonders kritisch sei die Eingrenzung auf eine bestimmte Personengruppe anhand äußerlicher Merkmale und ihrer mutmaßlichen politischen Orientierung – im Fall der Walpurgisnacht 2011 und während der Gefahrengebiete auf St. Pauli und in Altona im Januar 2014 Personen aus dem „linken Spektrum“.
Zum einen handle es sich um diffuse, äußerliche Merkmale, die auch modeerscheinungen zugeschrieben werden können und austauschbar sind. Zum anderen widerspreche dies dem Grundsatz, dass niemand aufgrund seiner politischen Überzeugung benachteiligt werden darf. Derartige Kontrollen seien dementsprechend verfassungswidrig. Das Oberverwaltungsgericht entschied außerdem, es könne nicht angenommen werden, dass Personen, die wirklich eine Straftat begehen wollten, sich von Kontrollen abschrecken lassen. Nicht nur kurzfristige Maßnahmen, wie die zur Walpurgisnacht im Schanzenviertel oder im Januar 2014 auf St. Pauli und in Altona, sondern auch langfristige Gefahrengebiete –beispielsweise zur Bekämpfung von Drogenkriminalität – dürften nach diesem Urteil auf den Prüfstand kommen.
Protest gegen das Gefahrengebiet in Altona und auf St. Pauli im Januar 2014:
CDU: Gefahrengebiete auf verfassungskonforme Füße stellen
„Die Ausweisung von Gefahrengebieten ist ein sinnvolles und notwendiges Instrument des Rechtsstaats gegen besondere Gefahrenlagen und hat sich auch bewährt“, sagt Dennis Gladiator, innenpolitischer Sprecher der CDU-Bürgerschaftsfraktion. Der Senat müsse sich deshalb nun um eine verfassungskonforme Regelung kümmern, die dem Ziel der Gefahrenabwehr gerecht werde. „Es ist bedauerlich, dass Innensenator Neumann bei der Anwendung die notwendige Sensibilität und Sorgfalt hat vermissen lassen. Die Quittung hat er heute vom Oberverwaltungsgericht bekommen“, so Gladiator weiter. Ihren Ursprung finden die rechtlichen Regelungen jedoch vor zehn Jahren bei den Christdemokraten. Der CDU-Senat verabschiedete damals ein „Gesetz zur Erhöhung der Sicherheit und Ordnung“ und ermöglichte der Hamburger Polizei damit, zur Prävention von Straftaten Gefahrengebiete auszurufen.
Seit der Schaffung der gesetzlichen Grundlage gab es in den mehr als 40 eingerichteteten Gefahrengebieten fast 55.000 Identitätsfeststellungen, etwa 12.500 Inaugenscheinnahmen beziehungweise Durchsuchungen, mehr als 13.700 Platzverweise, über 3.850 Aufenthaltsverbote sowie 2.464 Ingewahrsamnahmen und 6.197 Ermittlungsverfahren. Nicht bekannt ist, wie viele davon zu Verfahren oder Verurteilung führten.
Die Linke: „Alle Gefahrengebiete sofort abschaffen!“
Die Linksfraktion fordert nach dem aktuellen Urteil keine Reform der Maßnahme, sondern erneut eine unverzügliche Abschaffung aller bestehenden Gefahrengebiete und eine ersatzlose Streichung des Passus im Gesetz. „Das Anhalten, die Identitätsfeststellung und die Inaugenscheinnahme von mitgeführten Sachen, schlicht jede Maßnahme der Polizei auf der Grundlage der Gefahrengebiete, verletzt die Grundrechte der Betroffenen“, sagt Christiane Schneider, innenpolitische Sprecherin der Bürgerschaftsfraktion. Die Polizei müsse diese grundrechtswidrige Praxis nach fast zehn Jahren sofort beenden. „Die Gefahrengebiete in Hamburg dürfen keinen Tag länger bestehen“, fordert Schneider.
Piraten befürchten gesetzliche Neuregelung
Auch die Hamburger Piratenpartei fordert, in Zukunft vollständig auf die Einrichtung von Gefahrengebieten zu verzichten. „Die anlasslosen Kontrollen stehen für eine Sicherheitsideologie, die auf Abschreckung setzt. Wir alle werden ohne konkreten Verdacht zu potenziellen Gefährdern abgestempelt und entsprechend behandelt. Sie stehen für einen Staat, der die Kontrolle über seine Bürger ausüben möchte, denn Überwachung bedeutet Kontrolle“, sagt Thomas Michel, 2. Landesvorsitzender der Piratenpartei Hamburg. Die Befürchtung der Piraten ist, dass der Senat eine gesetzliche Neuregelung schafft, welche die Befugnisse der Polizei auf ein „verfassungsrechtlich gerade noch zulässiges Höchstmaß beschränkt“. Für die Piraten sei der einzige logische Schritt, der vollständige Verzicht auf jede Form anlassloser Kontrollen. Bereits Anfang 2014 hatten die Piraten versucht, mit einer Volksinitiative gegen die Maßnahme vorzugehen.
Grüne: Gesetzliche Grundlagen neu erarbeiten
„Das Urteil bedeutet, dass ab sofort keine weiteren Gefahrengebiete eingerichtet werden. Auch die seit vielen Jahren bestehenden Gefahrengebiete St. Georg und St. Pauli sind nach den heutigen Feststellungen des OVG zu überprüfen. Grundsätzlich ist die Überarbeitung schon im Koalitionsvertrag mit der SPD vereinbart, nun gibt es den konkreten Arbeitsauftrag dafür“, sagt Antje Möller von den Grünen. Auch die SPD will die Rechtsgrundlagen nun überarbeiten: „Wie bereits im Koalitionsvertrag vereinbart werden wir jetzt unter Berücksichtigung der schriftlichen Urteilsgründe zügig, aber auch mit der gebotenen Sorgfalt die erforderlichen Anpassungsbedarfe prüfen“, sagt Arno Münster, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.
Polizeigewerkschaft ist enttäuscht
Ganz anders beurteil die deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) das Urteil des Oberverwaltungsgerichtes. „Mit diesem Schritt geht den Beamten viel Handlungsspielraum verloren“, sagte Klemens Burzlaff, stellvertretender Landesvorsitzender der DPolG dem Hamburger Abendblatt. Dies sei bedauerlich, da sich die Polizeiarbeit in den dauerhaften Gefahrengebieten gut etabliert habe.
Gefahrengebiete: Maßnahme der Polizei ist verfassungswidrig
Berti
15. Mai 2015 at 14:55
Zusammenfassend kann man sagen, die Gefahrengebiete sind faschistoid. Rechtsbrecher in Uniform, protegiert von den immer gleichen Parteien, beklatscht von rechtsextremen Randgruppen, haben rechtswidrig arglose Passanten und Steuerzahler belästigt und gefangengehalten. Natürlich wird niemand zur Rechenschaft gezogen werden und Herr Neumann, der auf Schills Pfaden wandert, natürlich nicht zurücktreten, denn er will ja auch weiterhin fette Staatsknete kassieren. Wen interessiert schon, ob er massiv Scheiße baut, die Hamburger Presse sicher nicht. Da ist das Leistungsprinzip, was uns immer vorgebetet wird, dann merkwürdiger Weise aufgehoben. Diese Leute verdienen Geld damit, den Rechtsstaat zu untergraben und unsereins steht schon mit einem Bein im Knast, wenn nur die Steuererklärung zu spät abgegeben wird. Bananenrepublik Deutschland, wahrlich.