„Ihr seid sehr viele! Das ist sehr schön – und sehr aufregend!“ Mit diesen Worten eröffnete Tilman Rammstedt gestern Abend die vierte Ham.Lit, bei der sich die Besucher im Ballsaal des „Uebel und Gefährlich“ drängten. Der junge Autor war der erste von insgesamt 15 Talenten, die bei der „Langen Nacht junger deutschsprachiger Literatur und Musik“ im Bunker auf St. Pauli ein preisgekröntes oder preisverdächtiges Werk vorstellten.
Mit seinem neuen Roman „Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters“ sorgte Tilman Rammstedt (links) gleich zu Beginn für gute Stimmung. Darin berichtet er von sich selbst, wie er als Autor flehende E-Mails an Bruce Willis schreibt, um ihn – Achtung! – für die Rolle seines ehemaligen Bankberaters in seinem neuen Roman zu gewinnen. Und das, weil Bruce Willis für ihn der einzige ist, der seiner Erzählung noch zu einem Happy End verhelfen kann. Eine Geschichte über eine Geschichte also, in der abwechselnd von Begegnungen mit dem Bankberater und skurrilen E-Mails an den Schauspieler berichtet wird, bis am Ende beides zusammenläuft. Die Figur „mein ehemaliger Bankberater“, deren Bezeichnung wie ein Name verwendet und mit der immer gleichen ironischen Betonung gelesen wurde, war der absolute Publikumsliebling. Mit seinen zwei Kaffeebechern im Büro, wovon einer die Aufschrift „Kunde“ trägt, während auf dem anderen „Ich“ steht. Mit seinem kleinen Stoffkrokodil, das er eines Tages auf der Arbeit für sich sprechen lässt. Und mit seinen scheinbar naiv dahergesagten, aber sehr philosophischen Sprüchen: „Heute regnet es sehr stark nicht.“ Am Ende überfällt „mein ehemaliger Bankberater“ eine Bank und Bruce Willis wird ungefragt als Held in die Handlung eingebaut. Urkomisch wird es, wenn Tilman Rammstedt in der Geschichte eine (unbeantwortete) Mail nach der anderen an den Schauspieler schickt, um ihn über die Geschehnisse um seine Person auf dem Laufenden zu halten und ihn zu bitten, sich etwas eifriger für ein Happy End einzusetzen.
Auch ein Stockwerk höher, im Terrace Hill, drängten sich die Massen zu späterer Stunde zu einer Lesung von Matthias Nawrat (rechts). Beim Platznehmen auf der Bühne sagte dieser grinsend: „Wow, das ist das erste Mal heute Abend, dass ich einen freien Sitzplatz finde!“. Der in Polen geborene Schriftsteller las aus „Unternehmer“, einer Geschichte, die den Alltag eines jungen Mädchens im Schwarzwald schildert. Ihr Unternehmervater schlachtet alte Elektronikgeräte auf Rohstoffe aus und kommentiert den Verlust eines Arms bei der Arbeit sehr trocken: „Weil ein Unternehmen seine Opfer fordert.“ Der spezielle Blick auf das Unternehmertum und der Familientraum vom Auswandern nach Neuseeland lassen gesellschaftlichen Ausstieg und Kapitalismuskritik erahnen.
Im Halbstundentakt lasen gestern außerdem Frank Spilker, Monika Zeiner, Björn Kuhligk, Kevin Kuhn, Matthias Nawrat, Daniela Chmelik („Walzika“), Simone Kornappel, Kerstin Preiwuß und Lydia Daher – teilweise gleichzeitig auf verschiedenen Etagen. Für musikalische Genüsse sorgten zwischendurch die Bands 206 und JEANS TEAM, doch lag der Interessenschwerpunkt der Gäste unverkennbar auf der Literatur. Besonders voll war es im Turmzimmer anlässlich der Lesung einer literarischen Newcomerin: Friederike Gräff (mittig). Die gebürtige Hamburgerin hat bisher „nur“ journalistisch gearbeitet und mit ihren ersten Erzählungen gleich den Literaturförderpreis der Stadt abgeräumt. Darin macht sie Schafherden zu Selbsthilfegruppen und lässt bürgerliche Frauen Eier legen, was seine ganz eigene Aussage entfaltet. Doch allzu viel soll hier auch nicht verraten werden. Wer Lust auf die Werke der jungen Autoren bekommen hat, findet hier alle nötigen Informationen, um ein solches zu ergattern.
Fotos: Juliane Henrich, Nico Czaja, Lorena Simmel (v.l.)
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