Jan Freitag hat sich durch den Fernsehdschungel dieser Woche gekämpft und einen Wachkomapatienten und Pflichtprogramm für „Pegida-Fans“ gefunden.
Nein, es war wirklich nicht das Jahr des Fernsehens. Streamingdienste wie Netflix verbreiten Filme und Serien zu jeder Tages- wie Nachtzeit im Originalton, dass die gute alte Glotze zum Weltempfänger schrumpft. Mit ZDFkultur emigriert bald der einzig öffentlich-rechtliche Kanal mit struktureller Anziehungskraft auf Zuschauer unter 35 ins Netz. Selbst Google, Amazon, Youtube ersetzen das alte Leitmedium mit einer Art Regelprogramm ohne Regel. Kurzum: Anfang 2015 wirkt der klassische Fernseher wie ein Wachkomapatient. Dann aber schwappt der „Der Medicus“ aus dem Kino in die ARD und was geschieht? Fast acht Millionen Leute – ein erheblicher Teil jünger als 35 – schalten um 20.15 Uhr ins Erste und verpassen dem Rentnersender eine Quote wie beim „Tatort“.
Berechenbare Quotenbilanz
Einfach unberechenbar, dieses Publikum. Zumindest in dem Fall. Absolut berechenbar war hingegen die Auswertung der Gesamtquoten 2014. Dank politischer Dauerkrisen, Winterspielen und der alles überragenden Fußball-WM stieg der Marktanteil von ARZDF auf gut ein Viertel. Gemeinsam mit Ablegern von Arte über Phoenix bis zu den Dritten (wo der NDR mit bundesweit 2,5 Prozent den Spitzenwert erzielte), schaffen es gebührenfinanzierte Kanäle insgesamt auf knapp die Hälfte des Publikums ab drei Jahren. Es ist zwar kaum zu erwarten, dass dies im sportärmeren 2015 zu halten ist; doch dass RTL nach dem schwächsten Zuspruch seit 1989 oder Pro7, der den langjährigen Zuschauerkrösus dennoch nicht überholen konnte, nennenswert aufholt, ist es noch viel weniger. Dafür wird schon das Internet sorgen. Die Zukunft hat eben längst begonnen.
Auch auf Arte, das diese Woche ein zukunftsweisendes Experiment startet: Der bilinguale Kanal hat zwei Filme zum Thema Atomenergie in Auftrag gegeben, die kulturelle Besonderheiten seiner Partnerländer aufzeigen sollen. Unter deutscher Federführung läuft Donnerstag „Tag der Wahrheit“ mit Florian Lukas, der ein Pannen-AKW besetzt und dabei keine Zeit für heitere Zwischentöne lässt. Ganz im Gegensatz zu „Das gespaltene Dorf“ tags drauf, wo Katja Riemann unter französischer Ägide die Bürgermeisterin eines Grenzdorfs verulkt, dessen Probleme durch ein Endlager unterm idyllischen Ortskern gelöst wären. Hier ein Thriller, da eine Komödie, beides sehenswert. Doch besser fahren würde das „Tandem“, wenn es beiderseits des Rheins um dieselbe Story ginge. So regiert das Stereotyp: Franzosen können komisch, Deutsche eigentlich nur ernst.
Verkörpern statt spielen
Mit der Sitcom „Bettys Diagnose“ zeigen sie zwar ab Freitag (19:25 Uhr, ZDF), dass es hierzulande – wenngleich mit dem ausgelutschten Thema toughe Krankenschwester (Bettina Lamprecht) vs. selbstgerechter Chefarzt (Maximilian Grill) – sogar am Vorabend leidlich lustig zugehen kann. Hiesige Spezialität bleibt aber das Drama. Etwa der ARD-Mittwochsfilm „Nie mehr wie immer“, in dem Franziska Walser eine Frau spielt, die an der dunklen Vergangenheit ihres Mannes (Edgar Selge) zu zerbrechen droht. Dass sie ihre Figuren wahrhaft verkörpern, statt bloß zu spielen, liegt dabei nicht nur daran, dass beide auch real ein Paar sind; es hat mit der hiesigen Affinität zur sozialkritischen Seriosität zu tun – die natürlich im Krimi besonders zum Ausdruck kommt. Wie beim „Tatort“ Dortmund, der sich diesmal so wahrhaftig ins rechtsextreme Lager begibt, dass „Hydra“ Pflichtprogramm für alle Pegida-Fans sein sollte. Vielleicht kapieren die so, wo ihr bourgeoiser Alltagsrassismus letztlich einmündet.
Fast dokumentarische Fiktion, strikt dem Entertainment verpflichtet – das können allerdings auch echte Sachfilme. Etwa „Tatort Kreisklasse“, mit dem die ARD Mittwoch (22.45 Uhr) die grassierende Gewalt auf den Fußballplätzen unterer Ligen skizziert. Weniger dramatisch, aber ähnlich gehaltvoll: „Hier sind die Roboter“, eine famose Doku über den globalen Einfluss der Elektro-Pioniere Kraftwerk (Donnerstag, 22.45 Uhr, RBB). Dazwischen rangiert „Im Rausch“, der Mittwoch um 21.50 auf Arte erkundet, wie die Kulturgeschichte seit 200 Jahren von Drogen beeinflusst wird. Auch „12.378 km Australien“ des Moderators Sven Furrer (7., 9., 12. Januar, 20.15 Uhr, 3sat) sind so unterhaltsam wie lehrreich. Wie „The Internet’s Own Boy“ über den gefeierten Online-Aktivisten Aaron Swartz, der 2013 nach jahrelangem Kampf um die Freiheit des Netzes Suizid beging. Leider läuft so was dann tief in der Nische auf ZDFinfo, Dienstag um 1.05 Uhr und Mittwoch, 9.30 Uhr. Aber immerhin.
Dafür schaffen es die „Tipps der Woche“ zur Primetime: „Im Zeichen des Bösen“ (Donnerstag, 22.25 Uhr, 3sat) von 1957 mit dem schwarzweißen Orson Welles als manipulativer Polizeichef. Und von 1975, also schon farbig: Milos Formans „Einer flog über das Kuckucksnest“, am Sonntag auf Arte.
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