Nach ihrer Krebserkrankung beschließt Jessica Wagener alles stehen und liegen zu lassen und auf Weltreise zu gehen. Zwischen New York, Rio und Kapstadt lernt sie dabei nicht nur faszninierende Orte und Menschen kennen, sondern auch viel über sich selbst. Wir haben mit der Autorin über ihr Buch „Narbenherz“ gesprochen, in dem sie ihren Weg festgehalten hat.
Mittendrin: Die erste Frage sollte sicherlich sein, ob ich dir eine Steckdose anbieten kann, um dein Handy aufzuladen.
Jessica Wagener: Könntest du, aber mein Handy habe ich leider in Berlin liegen lassen.
Schade, denn das ist ja eigentlich der Start des Buches. Ich fand es sehr interessant, dass eine Weltreisegeschichte nicht mit tollen Sehenswürdigkeiten beginnt, sondern mit der Suche nach einer Steckdose.
Ja, das hat ganz am Anfang auch schon für das Gefühl gesorgt wieder umdrehen zu wollen. Ich kam in New York an und im Flughafen stand alles voll mit Feldbetten, auf denen Leute mit Decken saßen. Zwei oder drei Tage vorher war gerade Hurricane Sandy über die Ostküste gefegt und hat viel Schaden angerichtet. Es hieß vorher immer, das sei alles kein Problem. Aber als ich ankam sah das ganz anders aus. Da habe ich schon gedacht, Scheiße, was hast du hier gemacht, warum hast du die Reise nicht verschoben? Kurz darauf habe ich mir aber gesagt, gut du bist jetzt hier und musst irgendwie klarkommen. Dann habe ich mir ein Snickers gekauft und eine Flasche Wasser und war mir sicher, damit kann ich eine Zeit überleben. Ich habe dann tatsächlich ein Taxi in die Stadt bekommen. Die war aber zur Hälfte komplett dunkel, weil der Strom ausgefallen war. Und das auch noch zu Halloween, es sah aus wie bei einer Zombie-Apokalypse.
Du lässt ja im Buch schon ein bisschen den Nerd raushängen.
Meinst du?
An ein paar Stellen schon. Ist das bewusst drin?
Das bin einfach ich. Das ist das, was ich an den Stellen gedacht habe. Zum Beispiel: Oh Scheiße, Zombie-Apokalypse. Das Buch gibt insgesamt ziemlich genau meine Gedanken und Gefühle wieder.
Ist das was du in New York gelebt hast zu einem Lebensmotto geworden, es wird schon irgendwie passen?
Ja, das auf jeden Fall. Im Nachhinein habe ich darüber nachgedacht, was mir die Reise eigentlich gebracht hat. Unerwarteterweise war ein großes Fazit, dass die Reise genau richtig war, um mir durch die vielen Situationen, die ich erleben musste zu zeigen, dass ich Kontrolle über mein Leben habe. Es hat ja auch immer irgendwie geklappt. Durch die Krebserkrankung war ich völlig fremdbestimmt, weil immer neue Diagnosen, Therapien und Operationen kamen. Durch diese Reise habe ich wieder Selbstvertrauen gewonnen. Sechs Wochen in einer Kurklinik in St. Peter-Ording hätten mir da nicht so geholfen.
Du hast gerade deine Erkrankung angesprochen. Das ist natürlich ein sehr schwerer Schnitt im Leben. Denkst du denn, dass du diese Reise gemacht hättest, wenn du nicht krank geworden wärst?
Wahrscheinlich nicht. Wie viele andere Menschen habe ich immer gedacht „Oh das wäre so schön, so eine Weltreise“. Aber ich war so verhaftet im Alltag mit Freunden, Beziehungen, Arbeit und so weiter, das hätte ich nicht einfach so aufs Spiel gesetzt. Aber dadurch, dass ich krank wurde, habe ich gemerkt, dass ich gar nicht so viel Zeit habe, wie ich immer dachte. Viele sagen immer, dass sie das später einmal alles machen wollen, aber durch die Krankheit ist mir klar geworden, dass es dieses Später vielleicht gar nicht geben wird. Ich habe neulich gelesen, dass Physiker jetzt näher an der Erfindung der Zeitreise seien. Da habe ich überlegt, was ich anders machen würde, wenn ich zurückreisen könnte. Mein erster Impuls war sofort mir selbst vor der Diagnose zuzurufen: „Schnell, geh zum Frauenarzt, du bekommst Krebs.“ Doch dann dachte ich, nee, dann hätte ich die Reise ja nicht gemacht und all diese Dinge nicht erlebt. Dann wäre ich nicht der Mensch, der ich jetzt bin. Dieser Gedanke hat mich selbst überrascht, dass ich der Krankheit ein Stück weit dankbar bin, für das was sie aus mir gemacht hat. Verrückt, oder?
Das hatte ich nicht erwartet. Du trägst die Folgen deiner Krankheit ja mit deinen Narben sichtbar mit dir, akzeptierst diese im Laufe der Geschichte aber immer mehr. Du schreibst aber auch, dass wir alle schon mal etwas erlebt haben, das größere und kleinere Narben hinterlässt. Würdest du anderen empfehlen aus der eigenen Komfortzone auszubrechen, um die Narben zu heilen?
Ich glaube, dass man ein Leben gar nicht verletzungsfrei führen kann. Sonst würde man verschiedene Erfahrungen gar nicht machen. Das fängt schon als Kind an, wenn man sich die Finger klemmt. Das macht man dann kein zweites oder drittes Mal, man lernt und lernen tut manchmal weh. Wenn man nur in einer Komfortzone ist, dann existiert man zwar, aber lebt nicht. Ich glaube alte Erfahrungen hinter sich zu lassen und neue zu machen hilft weniger positive Erlebnisse zu verarbeiten. Vielleicht ein bisschen wie das Überschreiben von Dateien.
Du planst ja schon die nächste Reise zurück nach Rio und eventuell ein neues Buch. Kannst du dir denn vorstellen wieder in das Leben zurückzukehren, dass du vor deiner Krankheit gelebt hast?
Ich könnte mir nicht vorstellen wieder so zu leben, wie vorher. Das war nicht schlecht, aber ich habe mich einfach verändert. Ich passe nicht mehr in meine alte Form. Ich brauche jetzt einfach mehr Luft zum atmen und Freiheit, um Dinge zu entscheiden. Ich kann verstehen, wenn das Leuten Angst macht. Es ist manchmal auch anstrengend, gerade wenn man freiberuflich ist und keine feste Einkommenssituation hat. Aber meiner Persönlichkeit kommt das jetzt sehr entgegen so zu leben. Zum Beispiel einfach mal zu sagen „Ich bin jetzt zehn Tage weg“, ohne einen Urlaubsantrag stellen zu müssen. Ich könnte das nicht mehr so wie vorher.
Ralf Hans Paul
14. Dezember 2014 at 13:01
Lächel, das macht neugierig auf das Buch.