Jan Freitag hat sich durch den Mediendschungel dieser Woche gekämpft und dabei Rückgrat ohne Konjunktiv und das öffentliche Ende der Zurückhaltung gefunden.
Erstaunliche Zeiten sind manchmal Ursache erstaunlicher Reaktionen. Ob das entfesselte Wüten eines Mobs handfester Nazis und ihrer bürgerlichen Claqueure vor Flüchtlingsheimen landauf landab nun überraschend ist, mag dahingestellt sein; Tatsache ist, dass ein (verschwindend geringer) Teil der Folgen globaler Konflikte grad die furchtbare ebenso wie die fabelhafte Seite der Zivilgesellschaft zutage fördert. Erstere setzt uns die „Tagesschau“ längst täglich vor, wenn das nächste Aufnahmelager in Flammen steht. Doch selbst letztere bricht sich langsam von den Analyseseiten der linken taz in die Mainstreammedien Bahn.
Der Eifer der Klugen
Etwa, wenn die Hauptnachrichten ausgiebig über eine rührend überladene Sammelstelle für Hilfsgüter in Hamburg berichten oder Til Schweiger mal nicht nur klare Kante gegen fiktiven Schurken zeigt, sondern auch gegen den realen CSU-General Scheuer, dessen völkischer Selbstgerechtigkeit er bei Sandra Maischberger nicht unbedingt souverän, aber ehrlich die Meinung geigte. Endlich, weht es da durchs Fernsehland, entledigen sich Personen auf der richtigen Seite öffentlich ihrer Zurückhaltung und setzen dem Hass der Dummen etwas Eifer der Klugen entgegen. Und vielleicht verkneift sich ja irgendwann auch die dpa ihre missverstandene Objektivität und erspart uns Titel wie den, in Heidenau habe es „Randale zwischen Linken und vermutlich Rechten“ gegeben.
Zwei mutige Entertainment-Berserker
Mehr Rückgrat ohne Konjunktiv als im Informationsbusiness üblich ist da im nächsten Jahr von „Schulz & Böhmermann“ zu erwarten, wenn die zwei Entertainment-Berserker mit Mut zur Wahrhaftigkeit gemeinsam auf ZDFneo Talkgäste empfangen. „Partei ergreifend, polemisierend, gerne provozierend“, wie es in der Ankündigung heißt – davon könnte das Genre schon jetzt etwas mehr vertragen als die dauernden Durchschnittspöbeleien parteipolitisch geprägter Meinungssoldaten.
Ein stabileres Rückgrat hätte man diese Woche einem gewünscht, der sonst für Meinungsstärke steht: Thomas Schadt. Nach seinem filmisch soliden, aber bis zur Lächerlichkeit kritiklosen Biopic über Helmut Kohl vor sechs Jahren, ist er nun an Franz Beckenbauer gescheitert. Zum 70. schenkt der Filmemacher dem Kaiser Sonntag nach dem „Tatort“ nämlich nicht nur eine hübsch gefilmte Geburtstagsdoku, sondern tief gebückte Huldigung, in der von Korruptionsvorwürfen bis zur menschenverachtenden Katar-Connection alles fehlt, was am Denkmal kratzen könnte.
Echte Sehenswürdigkeiten statt Gefälligkeit
Angesichts solcher Gefälligkeitsgutachten lobt man sich die echten Sehenswürdigkeiten. „Beats of Change“ etwa, ein Rückblick im Soundstakkato, mit dem der RBB Dienstag (23.15 Uhr) die umwerfende Kraft des Techno im Berlin der Nachwendzeit Revue passieren und dabei vor allem DJs von damals zu Wort kommen lässt. Einen „Halbgott im Tropenwald“ von einst entzaubert dagegen 3sat tags drauf (20.15 Uhr): Albert Schweitzer. Ungeachtet seiner Verdienste um die medizinische Versorgung Afrikas, zeigt ihn der Film nämlich auch als herrischen Rassisten, wenngleich einen mit Herz.
Ins Herz menschlicher Normalität begibt sich ab Donnerstag um 23.20 Uhr der WDR. „Digital Diaries“ heißt ein Vierteiler, in dem Videoblogger als Teil der Jugendoffensive des Senders junge Themen fürs alte Fernsehen verarbeiten. Zum Auftakt – wenig subtil, aber unterhaltsam – „Sexualität weltweit“. Eher fürs ältere Publikum ist da einer, der am 5. September nochmals zehn Jahre älter wird als Kaiser Franz, dafür natürlich ein gefälliges ARD-Gutachten (21.45 Uhr) kriegt, am Freitag zuvor aber auch den neuen Streich seiner Niveauoffensive namens „Chuzpe“. Als jüdischer Spätheimkehrer eröffnet er darin am Ort seiner früheren Feinde ein Hackbällchen-Restaurant, was durchaus liebenswert ist, aber nichts für Zuschauer unter, sagen wir: 35.
Serien Serien Serien
Die gucken ohnehin Serien. Das Zombie-Prequel „The real Walking Dead“ zum Beispiel , abrufbar bei Amazon. Oder das furiose Drogendealer-Drama „Narcos“ auf Netflix, in dem der mexikanische Kokspate Pablo Escobar fast einschüchternd real wird. Da sehnt man sich doch nach harmloserer Fiktion vor wahrem Hintergrund. Wie in der „Wiederholung der Woche“, farbig die grandiose Einbürgerungssatire „Schweizermacher“ von 1978 in einer restaurierten Fassung (Sonntag, 21.35 Uhr, 3sat), gefolgt vom schwarzweißen Weihnachtsklassiker „Ist das Leben nicht schön“, in dem James Steward ausnahmsweise mal nicht Heiligabend nach Mitternacht vom Suizid absieht, sondern schon Sonntag um 23.50 Uhr (MDR). Und zum Schluss der Doku-Tipp: Sand – Die neue Zeitbombe, irritierender Film über die Ausbeutung der verkannten Ressource – mit fatalen Folgen fürs Ökosystem.
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