Das Containerprojekt der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften war eine Einrichtung für obdachlose Frauen. Heute leben auch Transgender und Transsexuelle hier, die kein Dach über dem Kopf haben. Eine von ihnen ist die 36-jährige Sarah.
Das laute Rattern der Rollläden kündigt an: Der Container ist geöffnet. Es dauert nicht lange, bis die ersten Bewohnerinnen den Kopf zur Tür hereinstecken. Auf eines wird sich schnell geeinigt: „Was für ein Scheißwetter!“ In Hamburg stürmt, hagelt und regnet es seit Tagen. Hier drinnen, im kleinen Versammlungsraum des Containerprojekts auf dem Gelände der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), ist es warm und trocken.
An diesem Sonntagabend im Januar sind es Lydia und Julien, die die Abendschicht übernehmen. Die beiden Studenten der Sozialen Arbeit arbeiten seit einem Jahr im Containerprojekt. Sommers wie winters finden hier zehn Frauen in den Wohncontainern Unterschlupf. Jede der Bewohnerinnen hat ihr eigenes, kleines Zimmer, das sie einrichten und abschließen kann. Solange sie sich an die Regeln halten, dürfen sie erstmal bleiben. Morgens und abends ist der Versammlungsraum offen. Hier können die Bewohnerinnen mit den diensthabenden Studenten ihre Probleme besprechen, oder einfach nur etwas Warmes trinken und mit den anderen quatschen.
„Sarah hat kein Glück gehabt im Leben“
„Hier klaut dir keiner deine Sachen,“ sagt Sarah. Gerade hat sie sich einen Früchtetee gemacht, einen Haufen Zucker hineingetan, und zu den anderen an den Tisch gesetzt. Vor einigen Monaten wurde ihr die Handtasche gestohlen. Das Portemonnaie, der Pass, alles weg. Jetzt weiß sie nicht, was sie tun soll. „Muss ich nach Berlin? Oder zurück in die Slowakei?,“ will sie wissen. „Es gibt ein Projekt, was dir helfen könnte,“ sagt Lydia. Sarah überlegt kurz, winkt dann aber ab. Sie hat erstmal dringendere Probleme. „Seit vier Tagen habe ich meine Hormone nicht genommen,“ sagt sie und seufzt. „Morgen muss ich unbedingt neue holen.“
Die 36-jährige ist transsexuell. Seit Jahren nimmt sie weibliche Hormone. „Wenn ich die nicht bekomme, drehe ich durch,“ sagt sie. „Dann kommt der Mann raus.“ Der Mann, der sie nie sein wollte. „Schon als Kind wusste ich, dass ich lieber ein Mädchen wäre.“ Sie nippt an ihrem Tee, streicht sich über die kurzen, blondierten Haare, und fängt an, ihre Geschichte zu erzählen. Laut, detailreich und ohne Auslassungen, damit auch alle zuhören. Die meisten hier kennen Sarahs Geschichte schon. Schweigen über die Vergangenheit, das ist nicht ihr Ding. „Sarah hat kein Glück gehabt im Leben,“ sagt sie über sich in der dritten Person.
Gemeinsam alles verloren
Sie erzählt, wie sie als Kind von einem Auto angefahren wurde und ihr linkes Bein verletzt wurde. Das Bein heilte schlecht, nach ein paar Jahren musste der linke Unterschenkel amputiert werden. Heute hat sie dank der Unterstützung der Hamburger Krankenstube, einer medizinischen Einrichtung für obdachlose Menschen, eine neue Prothese. „Aber viele Schmerzen,“ sagt sie, verzieht das Gesicht und streicht über den Oberschenkel. Lang möchte sie bei diesem Thema lieber nicht bleiben. Also springt sie schnell zu der nächsten schicksalsträchtigen Wende in ihrem Leben. „Mit 16 fing ich an, als transsexuelle Prostituierte zu arbeiten,“ sagt sie. „Aber in der Slowakei war das nicht gut. Es gab viel Diskriminierung.“
So macht sie sich vor zehn Jahren zusammen mit ihrer ebenfalls transsexuellen Cousine von der Slowakei nach Deutschland auf. Sie landet in Hamburg, arbeitet vier Jahre in einem Bordell auf der Reeperbahn, danach privat in einer Wohnung. „Dann,“ sagt sie und seufzt, „habe ich Emo kennengelernt und mich verliebt.“ Emo, ein Bulgare, wird ihr Freund. „Mit ihm habe ich alles verloren,“ sagt sie und senkt den Kopf. Zusammen landen sie auf der Straße. „Ich schlief in Parks, unter Brücken, auf Treppen, auch im Winter“ sagt Sarah. „Tagsüber wartete ich auf Emo, dass er mir etwas zu essen bringt.“ Manchmal kam er, manchmal nicht. Die Beziehung zu Emo ist schwierig, gibt Sarah zu. „Aber ich liebe ihn.“
Transexuelle werden oft abgewiesen
Transsexuelle wie Sarah haben es auf der Straße nicht leicht. Zwar hat Hamburg ein umfassendes Hilfesystem mit unterschiedlichsten Einrichtungen. Es gibt Angebote für Wohnungslose mit Süchten oder Krankheiten, für Kinder und Jugendliche, sowie weibliche und männliche Prostituierte. Transgender und Transsexuelle fallen jedoch bei vielen Angeboten durchs Raster. Schlägt etwa jemand wie Sarah, die sich als Frau fühlt, in einer Einrichtung für männliche Prostituierte auf, kann es zu Schwierigkeiten kommen. Denn nicht wenige männliche Prostituierte leisten zwar homosexuelle Sexarbeit, gehen aber außerhalb des Strichs heterosexuellen Beziehungen nach. „Viele eigentlich heterosexuelle männliche Prostituierte haben eine starke männliche Charakterausprägung“, erklärt Julien. „Da gibt es dann wenig Akzeptanz Männern gegenüber, die sich als Frauen verkleiden oder geben.“ Doch auch in den Fraueneinrichtungen, deren oberstes Gebot meist das Schaffen eines Schutzraumes mit ausschließlich weiblichen Bewohnern und Personal ist, werden Transsexuelle oft abgewiesen. Auf der Straße selbst sind sie weniger sichtbar, da die meisten von ihnen als Prostituierte arbeiten und in Bars und Clubs nach Freiern suchen, woraus sich hier und da eine Übernachtungsmöglichkeit ergibt.
Eine Schätzung, wie viele der ca. 200.000 wohnungslosen Menschen in Deutschland transsexuell oder transgender sind, gibt es nicht. Klar ist, dass viele von ihnen wie Sarah aus osteuropäischen Ländern herkommen, um der Diskriminierung im Heimatland zu entgehen. Außerdem werden sie von der Vorstellung gelockt, dass sich mit der Prostitution in Deutschland gut Geld verdienen ließe. „Leider ist das in der heutigen Zeit ein Irrglaube,“ sagt Julien. Das Containerprojekt entschied sich vor anderthalb Jahren, auch Transgender und Transsexuelle aufzunehmen. „Wir wollen auch ein Angebot sein für Menschen, die das reguläre Hilfesystem ausgrenzt“, erklärt Andrea Hniopek, Leiterin des Projekts und der Abteilung Existenzsicherung bei der Caritas, sowie Dozentin an der HAW. Seit 2013 gibt es im Containerprojekt deshalb zwei Plätze extra für Transgender und Transsexuelle. „Das Zusammenleben zwischen ihnen und den Frauen haben wir hier im Prinzip als unproblematisch erfahren“, sagt Julien.
So hatte Sarah Glück, als zum November letzten Jahres ein Container frei wurde und sie einziehen konnte. Sie fühlt sich wohl hier. „Wenn ich hierher komme, sage ich: Ich gehe nach Hause,“ sagt sie. Wie es weitergeht, das weiß Sarah noch nicht. Sie könnte sich vorstellen, als Pornodarstellerin zu arbeiten, „denn Sarah ist auch eine gute Schauspielerin“, sagt sie und lacht. Doch nun muss erst einmal der Winter vorbei gehen. Bei Sturm und Regen bleiben nämlich auch die Freier aus. „Was für ein Scheißwetter,“ murmelt Sarah noch, als sie die Tür des Versammlungsraums hinter sich schließt.
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