Jan Freitag hat sich durch den Fernsehdschungel dieser Woche gekämpft und hat dabei den besseren Gottschalk und einen europäischen Träumer gefunden.
Manche Zahl sagt mehr als Worte. 9/11 zum Beispiel ist auf fatale Weise redselig. Auch die literarische 1984, das tyrannische 33-45, zu schweigen vom teuflischen 666 dringen durch pure Numerik ins Gemüt. Das kann man von 8,676,045B1 nicht behaupten. Und doch spricht die Ziffernfolge eine klare Sprache. Unter dieser Patentnummer sichert sich der einst literarische, längst diabolische Multi Amazon Porträts, die ohne Schatten vor weißem Hintergrund fotografiert, also typisch für Amazon-PR sind. Aber innovativ, gar schützenwert? Da könnte man sich ja auch Filmküsse ohne Zunge im Wald patentieren lassen, Fernsehärzte ohne Brille vor Raufaser oder Ratesendungen ohne Technik, aber mit Moderator, der das wettmacht.
Der bessere Gottschalk
Es war eine Showmastermeisterleistung, wie Jörg Pilawa das „größte TV-Experiment des Jahres“ davor bewahrte, die peinlichste Selbstüberschätzung der ARD ever zu werden. Indem ein Teil jener 16 Millionen, die sich das „Quizduell“ aufs Smartphone geladen haben, live gegen Pilawas Studiopublikum spielten, sollten alte mit neuen Medien versöhnt werden. Zu blöd, dass Montag keiner der 180.000 registrierten Spieler ins Studio durchdrang und die Studiogäste gegen vier Kandidaten antreten mussten. Statt Geschichtsschreibung gab es also krude Theorien fieser Hackerangriffe. Und einen Moderator, der den Karren im Alleingang aus dem Dreck zog.
Mit schlagfertiger Selbstironie („Willkommen beim Fernsehen der 70er und 80er Jahre“) zeigte Pilawa abermals, dass er der bessere Gottschalk gewesen wäre. Hätte es da doch nur mal ein Casting gegeben… Apropos: Ab Donnerstag werden bei Pro7 wieder Popstars gesucht, die ihr Talent in ganzen 30 Sekunden beweisen müssen – was „Keep Your Light Shining“ angeblich schon innovativ macht. Wahnsinnsidee! Fast so kreativ wie das Thema Cultural Clash lustig zuzubereiten, weshalb der Sat1-Schwank „Nachbarn süß-sauer“ um leistungsstarke Chinesen als Nachbarn überforderter Deutscher (Christoph M. Ohrt, Bettina Zimmermann) morgen zwanghaft ins Banale schlittert.
Komplizierte Sujets ohne Peinlichkeit aufzubereiten ist eben doch eher öffentlich-rechtliches Kerngebiet. Heute etwa Arte mit Milan Peschel als unheilbar Krebskranker, den Andreas Dresens Cannes-Film „Halt auf freier Strecke“ voll ins Okular der Kamera nimmt, ohne ihm je zu nahe zu rücken. Oder parallel dazu im ZDF-Film „Die Toten von Hameln“, wo Bjarne Mädel als moderner Rattenfänger belegt, dass er zu humorfreien Rollen taugt – selbst wenn sie ein wenig mystisch geraten. Mystisch ist auch die 3. Staffel der grandiosen „Misfits“, aber das dürfte wie so oft kaum einer mitkriegen – läuft die britische Serie doch nach Mitternacht auf ZDFneo.
Er hatte einen Traum
Ein Sendeplatz, auf den vernunftbegabte Geister die Denunziationssause „Aktenzeichen XY“ wünschen. Stattdessen hortet sie zur Primetime im Zweiten wie gewohnt Quoten; zumal es diesen Mittwoch mal wieder uns „Bild“-Ding vermisster Kinder geht. Da könnte man glatt den neusten Kostümkitsch starker Frauen im Männerumfeld zeitgleich im Ersten empfehlen, wo Iris Berben als Grundgesetzgestalterin Elisabeth Selbert die „Sternstunde ihres Lebens“ erlebt. Ob es in ferner Zukunft Biopics über Martin Schulz gibt, Gestalter der europäischen Einigung, Titel-Vorschlag „Er hatte einen Traum“? Es ist jedenfalls bemerkenswert, wie sehr der sozialdemokratische Spitzenkandidat gerade im Fokus steht. Dass ihn die ARD morgen Abend live in die „Wahlarena“ gegen seinen konservativen Gegner Jean-Claude Juncker schickt, wäre unlängst undenkbar gewesen. Ebenso wie viele andere Formate zur Europawahl, die sich bis Sonntagnacht durch alle relevanten Sender fressen. Von Rainer Maria Jilgs Erkundung bayerischer Europaskepsis (heute, 20.15 Uhr, BR) bis hin zur morgigen Doku „Riskante Reise“, in der die ZDFzeit (mit viel Empathie für Grenzschützer) Flüchtlingsströme in die Festung Europa verfolgt.
Überhaupt ist diese Woche so kontinental, dass selbst Nationalerbauung weicht. Der „Tatort“ ist also bloß eine Wiederholung, wenngleich aus Hessen, während Ulrike Folkerts ins ZDF fremdgeht, wo sie als verliebte Hete in der Schnulze „Ein Sommer in Amsterdam“ ermittelt. Dann doch lieber das Promispecial vom „Quizduell“ am Donnerstag – sofern die Technik mitspielt. Oder Robin Williams in seiner ersten Serie seit Mork vom Ork namens The Crazy Ones (Mittwoch, 21.15 Uhr, Pro7). Oder das Champions-League-Finale, dem RTL am Samstag die 763. Wiederholung Mario Barths im Olympiastadion entgegensetzt, was noch älter wirkt als der „Tipp des Tages“ von 1961, Freitag bei Disney: „101 Dalmatiner“.
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