Der Tod der dreijährigen Yagmur aus Billstedt hat über die Grenzen Hamburgs hinaus schockiert: Jetzt fordern die Bürgerschaftsfraktionen von CDU, Grünen und FDP die Aufklärung in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss.
Im Mai letzten Jahres hätte die dreijährige Yagmur aus Billstedt noch gerettet werden können. Damals entschied das Familiengericht in St. Georg über das Wohl des Kindes. Yagmur musste trotz Bedenken des Jugendamts zurück zu den Eltern. Sie starb dort am frühen Morgen des 18. Dezembers an mehreren schweren Verletzungen: Gerichtsmediziner entdeckten Rippenbrüche, Armfrakturen und Blutergüsse am ganzen Körper. Die Jugendhilfeinspektion fertigte einen Bericht an, indem über große Mängel im Hamburger Kinderschutz berichtet wird. Die Fraktionen von CDU, Grünen und FDP fordern nun weitere Aufklärung über den Tod des Kindes und richten zu diesem Zweck gemeinsam einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) in der Hamburger Bürgerschaft ein. Die Fraktion der Linken plädiert für die Einrichtung einer Enquete-Kommission.
Auch wenn eine mögliche Koalition von CDU, Grünen und FDP auf Bundes- und Landesebene bereits ihren Spitznamen sicher hätte – die „Jamaika-Koalition“ – gemeinsame politische Aktionen sind bis heute rar. In der Hamburger Bürgerschaft dagegen setzen sich die Fraktionen wegen des Todes von Yagmur an einen Tisch und planen einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung ihres Todes. Dabei fordern die Politiker eine lückenlose Aufarbeitung, um ähnliche Fälle zukünftig zu verhindern und politische Verantwortlichkeiten zu klären. So erhofft sich der familienpolitische Sprecher der FDP Bürgerschaftsfraktion Finn-Ole Ritter grundlegende Erkenntnisse, um zukünftige politische Entscheidungen zu treffen.
Keine Kommunikation der Verantwortlichen
Offene Äußerungen der beteiligten Sozial- und Richterstellen gab es nämlich bis heute nicht oder sie waren schwierig zu erhalten. Die genauen Abläufe des Falls Yagmur seien bis heute nicht bekannt, der Untersuchungsbericht der Jugendhilfeinspektion wurde sogar in Teilen geschwärzt, weil einzelne Passagen offenbar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Der Bericht sei deshalb nur ein Anfang, sagt Christiane Blömeke, kinder- und jugendpolitische Sprecherin der Grünen Bürgerschaftsfraktion. Zwar werde dort vieles angerissen und auch Ursachen und Gründe genannt, diesen aber weiter auf den Grund zu gehen sei die Aufgabe des Parlaments und obliege nicht alleine dem Senat, fordert Blömeke. Dabei prangert sie gerade die Zusammenarbeit von Familiengericht und Staatsanwaltschaft an, die noch keiner Aufklärung unterliege. Auch erhoffe sie sich durch den Ausschuss, genaue Arbeitsabläufe und -belastungen des Allgemeinen Sozialen Dienste in Erfahrung zu bringen.
Laut Christoph de Vries, familienpolitischer Sprecher der CDU-Bürgerschaftsfraktion, gab es in Yagmurs Obhutsstelle im Bezirk Eimsbüttel allein im letzten Jahr zwei Überlastungsanzeigen im März und April. Auch im Jahre 2012 seien bereits mehrere Überlastungsanzeigen der Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) im Bezirk eingereicht worden, sagt Blömeke. Doch verändert hat sich bis heute nichts. Weder eine debattierte Personalaufstockung der grundlegend überforderten Sozialdienste, noch eine Vergrößerung des Etats für die ASD’s wurde vom Senat verabschiedet. Dabei dokumentiert ein früherer tragischer Fall aus Hamburg – der Tod des elfjährigen Mädchens Chantal im Jahr 2012 – dramatische Zustände in den ASD’s.
Nach dem Tode Chantals führte der Koblenzer Pädagogik-Professor Christian Schrapper eine Organisationsanalyse durch – der Wissenschaftler empfahl daraufhin der Hamburger Sozialbehörde, eine Fallobergrenze pro MitarbeiterIn einzuführen. Manfred Neuffer, Professor für Pädagogik an der HAW in Hamburg, beziffert die Anzahl an Fällen in einem Papier zum Tode Yagmurs auf nicht mehr als 28. Im Normalfall sind die sozialen Dienstleister allerdings für circa 90 Fälle im Jahr zuständig – selbst der Senat geht bei einzelnen der 33 Jugendamtsabteilungen in Hamburg von 100 bis 125 Fällen aus. Dies sind trotz einer im Mai 2012 neu eingeführten Software, die mehrere Arbeitsschritte erfasst als ihre Vorgängerversionen, zu viele für Blömeke. Ein seit Jahren unter Federführung des Bezirksamts Wandsbeks im Gespräch stehendes „Personalbemessungsystem“ ist noch nicht erarbeitet. Die Jugendämter sind überlastet – vor allem wegen des Personalmangels. Auch deshalb fordern die Fraktionen die politischen Verantwortlichen im Fall Yagmur, insbesondere die Sozialbehörde unter der Leitung des Sozialdemokraten Detlef Scheele sowie die Justizbehörde von Jana Schiedek (SPD) und die Leiter der Bezirksämter in Mitte und Eimsbüttel Andy Grote (SPD) und Thorsten Sevecke (SPD) auf, individuelle Verantwortung zu übernehmen und die strukturellen Probleme zu bekämpfen. Die Einrichtung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses soll deshalb schnell voranschreiten: Geplant ist es, den Antrag bereits am 12. Februar einzureichen und den Fall noch innerhalb der aktuellen Legislaturperiode zu behandeln.
Die Fraktion der Linken erkennt in der Einrichtung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses allerdings einen unnötigen Opportunismus der Fraktionen, der eine grundlegende Verbesserung des Kinder- und Jugendhilfesystems verhindere. Mehmet Yildiz, familienpolitischer Sprecher der Linksfraktion, tritt für eine Enquete-Kommission ein, die nicht einzelfallorientiert vorgehe, sondern „systemisch die Tücken des Sozialsystems aufdecke und spürbare Veränderungen“ mit sich bringe.
Systematische Veränderung – kein Personalwechsel
Es bleibt die Hoffnung, dass die Einrichtung des Ausschusses nicht nur ein politisch-taktisches Mittel darstellt, sondern Entscheidungen zum Wohl der Kinder nach sich zieht. Nach dem traurigen Tod der elfjährigen Chantal verfügte Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) über den Rücktritt des damaligen Bezirksamtsleiter von Hamburg-Mitte Markus Schreiber. Getreu nach dem Motto: Der Schwächste fliegt. Doch Personalentscheidungen allein beheben das Problem nicht. Das wiederum zeigt der Tod Yagmurs. Sie ist bereits das sechste Mädchen in Hamburg, welches aufgrund von Fehlleistungen der Sozialbehörden stirbt. Entscheidend seien deswegen nicht „Symbolpolitik und Reaktionismus“, so de Vries, „sondern vielmehr der Einsatz für schutzbedürftige Kinder im Vorwege“.
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