Das junge Schauspielhaus Hamburg lässt den Zuschauer mit der Inszenierung des gleichnamigen Buches von Janne Teller eine neue Situation erleben: die eigene Flucht vor dem Krieg.
Das Publikum nimmt in einem kleinen Raum im Foyer der Baustelle junges Schauspielhaus Hamburg auf bunten Plastikstühlen Platz und wartet. Lautsprecher hängen ohne jeglichen Schutz an Drahtseilen von der Decke oder sind direkt an der weißen Wand befestigt. An der Wand an Eingang und Bühne fliegt eine fast zu übersehende Friedenstaube.
Wo geht man hin, wenn Krieg ist
Man wartet, bis etwas passiert. Die beiden Schauspieler sitzen in den Reihen des Publikums und scheinen ebenfalls zu warten. Der Schauspieler Benjamin Nowitzky fragt, ob er sein Hemd eher auf- oder zumachen soll und versucht es sich mit breiten Beinen auf dem Stuhl bequem zu machen. Björn Boresch fragt einen Jungen im Publikum „wenn bei uns Krieg wäre, wohin würdest du dann gehen?“ Der Junge antwortet peinlich- cool: „China“. Dann stehen beide auf. Die Musik Sonnentanz von Klangkarussel erklingt und sie tanzen. Während ihr Blick starr und glasig wird, wird der Tanz zu einem Stolpern, dann zu einem Rennen. Die Schatten an der Wand rennen mit, während die Musik zu einem immer schriller werdenden Ton wird. Es ist Krieg. Und man appelliert an den Zuschauer, dass er hier wäre. Hier in Europa. Hier in Deutschland. Die Demokratie wurde abgesetzt.
Du hast Angst. Morgens. Mittags. Abends. Nachts.
Ein Kinderroller fällt auf den Boden, der auf dem Rücksitz liegende Teddybär ebenfalls. Die einst orange Fahrradfahne liegt dreckig und zerfetzt da. „Du hast Angst. Morgens. Mittags. Abends. Nachts.“ Asche aus zerfetzten Mülltüten wird auf den Roller gestreut. Man flüchtet. In die arabische Welt, nach Ägypten, wo alles besser sei als in Europa. Doch man ist nicht legal hier. Man kann nicht mehr zur Schule oder zur Universität gehen oder gar die Sprache lernen. Um Geld zu verdienen, verkauft man nun Kuchen. Und man denkt immer daran, dass man dadurch anderen Menschen das Geschäft wegnimmt. Aber man muss schließlich etwas gegen die eigene Armut tun. Die Ägypter halten nicht viel von europäischen Büroarbeitskräften, welche die Sprache nicht beherrschen.
Zurück nach Deutschland kann man nicht mehr
Nach zwei Jahren wird man nach Assuan umgesiedelt, stellt wieder einen Asylantrag und wartet, während man Sonnenblumenkerne isst. Doch nichts passiert. Man verkauft weiterhin Kuchen. Jahre später wird einem Asyl gewährt. Auf einmal bekommt man auf dem Markt nur das beste Obst und Gemüse und man kann sich Markenturnschuhe kaufen. Aber trotzdem ist und bleibt man fremd. Zurück nach Deutschland kann man nun nicht mehr. Denn dort wird man als Verräter bezeichnet. Die eigene Schwester wird mit 16 schwanger, verschleiert sich und betet regelmäßig. Die Eltern fürchten um sie, sie ist so anders geworden, und schicken sie zurück nach Deutschland. Man selber heiratet ebenfalls, um einen Menschen aus der Not zu helfen: Karina aus Deutschland.
Man gewöhnt sich an alles
Die Lautsprecher an den Seilen werden angestoßen. Wie Weihrauchgefäße schwenken sie im Foyer. Die Sonnentanzmusik erklingt – Heißt das, dass nun alles wieder gut ist? Man gewöhnt sich an alles. Auch an die Armut, nicht aber an das Fremdsein: „Jemand kam und stahl dein Leben“. Die beiden Schauspieler öffnen die Glastür des Foyers und treten in die Kälte hinaus.
Die Stimmung im Publikum ist bedrückt und man schweigt, vielleicht weil man nachdenkt, weil man gedanklich noch in Ägypten ist. Der Junge, der am Anfang nach China auswandern wollte, sieht leicht verwirrt aus. Was wäre wenn, fragt Björn Boresch ihn direkt ins Gesicht. Was wäre, wenn seine Schwester wirklich im Krankenhaus läge und die Mutter schwer krank wäre?
Die beiden Schauspieler spielten das Stück mit großer Ausdrucksstärke. Durch ihre Mimik, die so real und gekonnt eingesetzt wurde, brachten Björn Boresch und Benjamin Nowitzky die Zuschauer zum Schmunzeln oder dazu sich beklommen fühlen. Am Ende des Stückes steht das Publikum noch lange in der Ecke neben den kreuz und quer stehenden Stühlen. Das Stück hat es geschafft, dass sich viele Zuschauer für 60 Minuten als Flüchtling fühlen.
Fotos © Sinje Hasheider
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