Kultur

Ulfert Sterz bringt frischen Wind in die Veddeler Immanuelkirche

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Mathias Birsens
@m3irsens

Redakteur | Student der Islamwissenschaft und der Philosophie an der Uni Hamburg | Kontakt: birsens@hh-mittendrin.de

Pastor Ulfert Sterz in seiner Kirche in Veddel Ulfert Sterz ist evangelischer Pastor auf der Veddel. Der 46-Jährige hat die Kirche erfolgreich mit neuem Leben gefüllt, indem er zusammen mit engagierten, jungen Künstlern zahlreiche kulturelle Angebote in den Kirchenräumen etabliert hat, die für Menschen aller Religionen und Kulturen gleichermaßen offen sind.

 

Mathias Birsens: Die Veddel gilt in Hamburg als Problemviertel – was kriegen Sie denn davon bei Ihrer Arbeit mit?
Ulfert Sterz: Als ich hier neu war, war das schon auch schockierend. Ich habe mich – gerade am Anfang, aber auch jetzt noch des Öfteren – häufig sehr, sehr überfordert gefühlt, aber auch nicht adäquat ausgebildet. Ich hatte mit massiven Alkoholproblemen, mit Überschuldungen, mit Drogen und so Sachen zu tun, wo ich nicht sofort wusste, was das Richtige ist. Mittlerweile bin ich sehr gerne hier und finde das, was hier passiert, auch richtig toll. Dass Kirche sich so öffnet und das es so einen großen Freiraum zum Experimentieren gibt. Man kann hier ganz viele Sachen ausprobieren, die man in traditionellen Kirchen – wo alles noch läuft wie früher – einfach nicht machen kann. Der Stadtteil ist halt sehr klein – 4500 bis 5000 Einwohner. Davon sind, zumindest auf dem Papier, noch etwa 700 Gemeindemitglieder. Vielleicht fünf, die ich persönlich kenne und von denen noch ein oder zwei in den Gottesdienst kommen. Der Stadtteil ist stark von Migration geprägt, auch von einer überwiegend muslimischen Bevölkerung. Es gibt viele Veranstaltungen, die Gottesdienste eingeschlossen, wo ich zum Teil der einzige, evangelische Kirchenchrist bin. Es fehlt, wie überall in Hamburg, an Probenräumen, an Auftrittsmöglichkeiten für unbekannte Musiker und der Möglichkeit Filme zu gucken. Und es fehlt eigentlich auch ein offenes Café, wo alle hingehen können.

Mathias Birsens: Deswegen haben Sie die Gemeinderäume geöffnet und jungen Künstlern eine Plattform geboten. Wie kam es dazu?
Ulfert Sterz: 2006 zur Fußballweltmeisterschaft haben wir uns entschieden die Räume hier zu öffnen und alle einzuladen von der Veddel. Egal welche Religion oder welche Kultur sie haben. Das habe ich dann mit jüngeren Künstlern aus dem Studentenmillieu, die ich nur flüchtig kannte, gemacht. Und das hat wunderbar geklappt! Die haben Eigeninitiative entwickelt und haben hier neben dem Fußball Essen und Trinken angeboten und in den Halbzeitpausen und danach Musik gemacht. Und dann kamen wir ins Gespräch und die meinten, das wäre doch total schön so was öfters mal zu machen. Und seitdem haben wir eigentlich mindestens einmal im Monat eine offene Jam Session, wo alle vorbeikommen können, die Musik machen wollen oder Musik hören. Die Leute können sitzen und spielen wo sie wollen. Das hat sich so weit entwickelt, dass jetzt bis zu 20, 30 Leute da sind. Dort treffen sich ganz unterschiedliche Leute: Wir haben Kirchenmusikstudenten, die Orgel spielen, klassische Blechblässer, aber auch Leute aus dem Liedermacherspektrum, die richtige Rockmusik machen. Und da habe ich gemerkt, dass diese Leute ein großes Interesse haben. Die sind meistens nur schwach kirchlich sozialisiert, häufig aus der Kirche ausgetreten, oft mit einem katholischen Hintergrund und haben eher eine skeptische Einstellung der Kirche gegenüber. Die Erwartung, die die hatten war wahrscheinlich: In der Kirche muss man still sitzen, darf kein Bier trinken und muss leise sein. Diese Vorstellung haben wir völlig dekonstruiert. Wir haben gesagt: „Fühlt euch wie zu Hause!“ Und ziemlich schnell – innerhalb von einem halben Jahr – haben viele dieser jungen Leute, eine Art Heimatgefühl entwickelt. Seit letztem Herbst haben wir auch alle zwei Monate etwas das heißt „Veddler Musikkirche“. Da sind bestimmt immer 70, 80 Leute in der Kirche. Zum Vergleich der Gottesdienstbesuch: Als ich hier ankam waren da fünf, jetzt sind es vielleicht so fünfzehn Leute. Mittlerweile ist das auch schon multikulturell und multireligiös, was mich sehr freut. Wir hatten letztens auch eine türkische Band dabei, die muslimisches Publikum mitgebracht hat. Und das läuft richtig gut. Wir haben permanent Ausstellungen in der Kirche. Am 1. Mai wurde eine große Ausstellung von einer Künstlerin aus Leipzig eröffnet. Auch mit Musik und einer richtigen Vernissage. Danach kommen im Juni wahrscheinlich Künstler aus Frankfurt am Main.

Mathias Birsens: Und wie soll das in Zukunft weitergehen?
Ulfert Sterz: Wir sind am überlegen, ob man hier baulich was machen kann. Es gibt inzwischen einen Plan hier ein Kirchencafé reinzubauen. In den nächsten zwei Monaten werden erst mal Architekten kommen und gucken, wo das sein könnte. Wir wollen versuchen das baulich so zu gestalteten, dass sich alle Leute – gerne auch anderer Religionen – hier rein trauen. Außerdem soll es möglichst hochwertig sein, also nicht so Thermoskannenkaffee und eigentlich sieht es aus wie Seniorenkreis, sondern mit WLAN, am besten auch mit einer richtigen italienischen Kaffeemaschine, mit schönem Geschirr und der Möglichkeit im Sommer draußen zu sitzen. Die Frage ist: Lässt sich das Ganze so umgestalten, dass es seinen Charakter behält, aber eben – mit Café und Auftrittsmöglichkeiten für die verschiedenen Leute – auch attraktiv ist? Und das müssen wir dann noch in Einklang bringen mit unseren sozialen Aufgaben. Also mit der Kleiderkammer, die wir hier haben, und den verschiedenen Essen für bedürftigere Menschen. Das wollen wir unbedingt auch aufrechterhalten und da müssen wir gucken, wie wir das räumlich machen. Je mehr das natürlich wie ein professionelles Café oder ein professioneller Konzertraum aussieht, umso schwerer ist es dann dieses Multifunktionale zu erhalten. Es gibt durchaus ernst zu nehmende Überlegungen das Obergeschoss des Pfarrhauses als Wohnung zu belassen und hier unten das auch zu öffnen. Der Kirchenkreis prüft gerade, wie viel Geld ist da. Die Entscheidung ist auf alle Fälle, die Gemeinde auf der Veddel zu erhalten und auszubauen. Man möchte sozusagen im ärmsten Stadtteil Hamburgs vor Ort bleiben und nicht nur da sein, sondern sogar etwas machen. Das finde ich sehr gut. Das schöne ist halt, dass der Kirchenkreis das mitträgt. Ich komme aus Halle im Osten Mitteldeutschlands und habe das da oft erlebt, dass man auch noch sehr traditionelle Kirchenbilder hat. Das ist hier ganz anders: Nicht nur Kirche als Verein zu denken mit steuerzahlenden Mitgliedern, sondern zu sagen: „Wir wollen für den Stadtteil da sein und fragen nicht wo jemand herkommt.“ Wir wollen versuchen die Musik-, Kunst und Kinoangebote, zu verstärken und Leute hier heimisch zu machen. Zum Teil die, die schon da sind, aber auch die, die vielleicht jetzt das erste Mal reinschnuppern. Das Ganze soll sich nicht nur von der Kirche oder der Diakonie tragen, sondern vom Stadtteil angenommen werden. Und zurzeit sind wir da auf einem guten Weg. Wir haben fünf, sechs Leute – Studenten aber auch Künstler, die Initiative übernehmen, sich zu Hause fühlen, selbstständig Sachen machen und Publikum holen, um das weiterzutragen. Und im Moment ist das alles für diesen ärmsten Stadtteil Hamburgs kostenlos. Wir stellen bisher immer nur eine Spendendose hin. Und das geht ziemlich gut! Wir haben in diesem letzten halben Jahr – seit wir das machen – unsere Besucherzahlen bei den Veranstaltungen teilweise verzehnfacht. Bis hinein in den Gottesdienst!

Mathias Birsens: Welche Wirkung haben diese Angebote denn auf den Stadtteil und vielleicht auch darüber hinaus?                                                                                  Ulfert Sterz: Die Kirche wird als Akteur im Stadtteil wahrgenommen. Das Gebäude ist halt sehr zentral, war aber wohl lange relativ geschlossen – man ist vorbeigegangen. Jetzt haben wir den tollen Effekt, dass man dadurch das hier fast jeden Tag Licht brennt, Musiker üben, und seit einem knappen Jahr auch Jugendarbeit gemacht wird, sieht: Es ist was los in der Kirche und es gehen Leute rein und raus, die man nicht mit klassischem Kirchenpublikum in Verbindung bringt: Dreadlocks und bunte Haare und lustige Jacken. Und da bleiben Leute, die vorher immer vorbei gegangen sind stehen, gucken sich den Schaukasten an oder kommen mit rein und fragen: „Was macht ihr denn?“ Zurzeit ist das fast wie so ein Selbstläufer, also auch durch das studentische Milieu. Ohne das wäre es sicher schwerer. Wir könnten noch viel mehr anbieten. An manchen Tagen haben wir fünf verschiedene Musiker hier, die üben, von Dudelsack bis hin zu Pop- und Rockmusik. Zurzeit erscheint mir dieses Kulturelle – also gerade Musik und Kunst – die Möglichkeit zu sein, den Standort personell zu sichern. Das sind eigentlich die Bereich wo Menschen kommen und sagen: „Wir kommen regelmäßig. Wir halten Termine ein. Wir denken uns selber Sachen aus.“ Und da muss auch mein Nachfolger schauen: Wie kann man vielleicht durch die Musikveranstaltungen, durch Kinoreihen Strahlkraft entwickeln. Einmal dass die Veddel die Kirche als eine Bereicherung für den Stadtteil wahrnimmt, unabhängig von Religion und Kultur. Und das es vielleicht sogar über die Veddel rausstrahlt.

Mathias Birsens: Und das ist bisher noch nicht auf Widerstand gestoßen?
Ulfert Sterz: Also eigentlich nur im Kirchengemeinderat, da sind wir sechs Leute. Drei davon sind älter und für die ist es schwierig. Eine Person davon hatte starke Schwierigkeiten und es gibt auch viel Gesprächsbedarf. Aber in den entscheidenden Abstimmungen hat sie mit dafür gestimmt, also für den neuen Weg. Aus der Gemeinde gibt es eigentlich keinen Widerstand bisher. Wir haben vielleicht zwei ältere Frauen, denen eventuell die alte Gottesdienstform vertrauter ist. Also es ist jetzt nicht so, dass wir damit Leute verprellen würden. Wir haben schon viel ausprobiert: Wir haben monatliche E-Gitarren-Gottesdienste etabliert. Und die Leute kommen trotzdem, die bleiben nicht weg. Es sind wirklich weniger als fünf Leute, die vielleicht die ältere Form vermissen. Als ich dieses Konzept im Stadtteilbeirat vorgestellt habe, gab es sogar standing ovations (engl. tosender Applaus). Da hatte ich den Eindruck: Jetzt ist Kirche dort, wo sie für den Stadtteil was bringt.

Mathias Birsens: Soll das Ganze dann auch wirtschaftlich ausgerichtet werden wie die Kulturkirche GmbH in Altona?
Ulfert Sterz: Also bislang ist nicht daran gedacht, dass sich das wirtschaftlich selbst trägt. Der Stadtteil ist halt arm und man muss schon sagen, dass das auch viele Leute die hier herkommen sind. Außer die, die aus anderen Stadtteilen zu Musik- oder Kinoveranstaltung kommen und dann auch größere Beträge spenden. Deshalb können wir hier glaube ich nicht gewinnorientiert arbeiten. Ich fände es auch schwierig! Es ist schon klar, dass man Geld braucht, wenn man so was macht, aber auf der Veddel fände ich es irgendwie unpassend. Wir wollen auch erst mal dem Stadtteil zeigen, dass wir ihm ein Geschenk machen mit den Räumen und mit dem was wir anbieten. Das Café soll sich trotzdem möglichst selber tragen. dass man für einen Cappuccino schon 80 Cent oder einen Euro bezahlt. Aber eher so in Richtung Selbstkostenpreis.

Mathias Birsens: Sind Sie hier auf der Veddel auch politisch aktiv?
Ulfert Sterz: Ja, also politisch im weitesten Sinne. Das ist nach meiner Erfahrung auch so, dass wenn wir uns hier einmauern und sagen: „Wir machen Gottesdienst und Bibelkreis und so“, dann können wir abschließen. Ich bin da in diesen verschiedenen Gremien drin – soweit es meine Zeit erlaubt – also z.B. im Stadtteilbeirat, in der Arbeitsgemeinschaft Wohnen, die sich um die schlechten Wohnverhältnisse hier kümmert, und ich bin auch im ‚Expertenausschuss“ für die Entwicklung der Veddeler Nordspitze. Ich habe auch den Eindruck, dass das auch erwartet wird. Und das die Akteure hier es seltsam fänden, wenn Kirche gar nicht mitmacht in diesen sozialen und politischen Belangen. Sich für solche Sachen einzusetzen, das passt! Das ist von meinem Kirchenbild her unbedingt Aufgabe von Kirche. Ich habe auch den Eindruck, je mehr wir zeigen, dass wir an dem Stadtteil interessiert sind und hier nicht unsere Kirchensuppe kochen, desto mehr verbessert sich auch die Zusammenarbeit. Wir wollen wirklich, dass es den Menschen, die hier wohnen, gut geht und fragen nicht danach welche Kultur oder Religion sie haben.

Mathias Birsens: Also sehen Sie die Rolle der Kirche gar nicht nur auf Gottesdienste beschränkt?
Ulfert Sterz: Überhaupt nicht! Auf gar keinen Fall! Also hier auf der Veddel ist das der Zuckerguß auf dem Kuchen

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1 Kommentar

  1. Jörg

    11. Oktober 2014 at 18:22

    Ufert einfach großartig, diese Veränderungen sind in allen Bereichen notwendig und sinnvoll. Ich glaube bzw. weis aus der Historie, dass hier die Kirche einen maßgeblichen Anteil am friedlichen Übergang der beiden deutschen Staaten hatte. Möge die Chance für ein friedliches und sinnvolles gemeinsames großes und geeintes Europa mit sinnvoller kirchlicher Unterstützung und Führung mit vielen jungen „Neugeistern“
    seine Vollendung finden. Liebe Grüße
    Jörg Becker aus Teltow, bei Berlin

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