Anlässlich der Saatgut-Tauschaktion „Freies Saatgut für alle“ versammelten sich am Sonntag mehr als 100 Interessierte und Hobby-Gärtner im Gängeviertel. Mit der Tauschaktion soll die Obst- und Gemüsevielfalt in Hamburgs Gärten erhalten bleiben.
„Das ist ein hochdramatisches Problem, das uns alle angeht. Völlig unabhängig von jeglicher Weltanschauung. Hier geht es um die Zukunft der Menschheit!“ So schätzt Harald Lemke, Philosoph und Autor des Buches „Politik des Essens“ die heutige Situation der Sortenverarmung bei Obst, Gemüse und anderen Gewächsen ein. Und damit ist er nicht allein. Mehr als 100 Interessierte beteiligten sich am Sonntag an der Saatgut-Tauschaktion des Hamburger Netzwerks „Solidarisches Gemüse“.
Ausschlaggebend für diese und andere Aktionen ist die Saatgut-Gesetzgebung der EU. Diese schließt alles Saatgut vom Markt aus, das bestimmte Kriterien nicht erfüllt. Um zum Beispiel eine regional gut wachsende Tomatensorte pflanzen und gegebenenfalls verkaufen zu dürfen, ist ein langes und kostenaufwändiges Zulassungsverfahren notwendig. Die Kriterien, darunter die der Homogenität, Unterscheidbarkeit und Beständigkeit, sind auf die industrialisierte Landwirtschaft abgestimmt. Sie unterstützen damit vor allem die großen Agrarkonzerne, von denen heute zehn Unternehmen 74 Prozent des weltweiten Samengutmarktes kontrollieren. Um dem damit einhergehenden Verlust der Pflanzenvielfalt entgegenzuwirken, bilden sich überall auf der Welt Gemeinschaften wie „Solidarisches Gemüse“, die sich in Diskussionen und Workshops möglichen Lösungen widmen und einander mit eigenem Saatgut beschenken.
“Wir müssen alle Gärtner werden“, sagt Harald Lemke. Angesichts der Übermacht der Agrarkonzerne sieht er derzeit keine andere Möglichkeit, als dass sich engagierte Menschen in ihrer Freizeit um den Erhalt der Pflanzenvielfalt kümmern – so, wie es in den zahlreichen urbanen Gemeinschaftsgärten in Hamburg-Mitte passiert, die sich am Aktionstag beteiligten. Lemke selbst ist in der „Keimzelle“ auf St. Pauli aktiv und beschreibt das Interesse und den Zulauf als so groß wie nie.
Besonders bunt und gut besucht war der Tisch von Vera Hempel (Foto). Sie arbeitet auf dem „Hof vorm Deich“ bei Allermöhe Die Region besitzt besonders fruchtbare Böden und deshalb seit Jahrhunderten eins der führenden Blumen- und Gemüseanbaugebiete der Stadt Hamburg. Vera Hempel und der Hofgemeinschaft geht es vor allem um die Verbindung zwischen Stadt und Land und den Bezug der StadtbewohnerInnen zu den Produkten aus ihrer Region. Das sei eine Chance, gegen die Konkurrenz auf dem weltweiten Markt und gegen die großen Konzerne zu bestehen. Vera Hempels Spezialität sind verschiedenste Tomatensamen, besonders alte Sorten. „Blondköpfchen“ heißt eine davon – gelbliche Kirschtomaten, deren Samen heute fast nirgendwo mehr erhältlich sind.
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