Gegen die Fenster des Kulturladens in Hamm schlägt auch schon um halb acht die herbstliche Dunkelheit. Hell erleuchtet eine Leselampe den Platz von Michael Brenner. Ruhig erzählt der Autor von seiner Kindheit und Jugend in Horn und Hamm und liest aus seinem Werk „Kinder der Verlierer – Heimat Nachkriegszeit“.
„Was hat Ihr Vater im Krieg gemacht?“, eben diese Frage ist der Ursprung des Buches, das nun in der zweiten Auflage erschienen ist. Im Winter 2006 bat die Hamburger Werkstatt der Geschichte Michael Brenner um ein Interview über seine Schulzeit. Die überraschenden Fragen zum Krieg, seinen Eltern, sowie seiner eigenen Kindheit und Jugend, öffneten ein Fenster zur Vergangenheit. Brenner begann zu recherchieren. Er sprach mit vielen alten Schulkameraden über Erlebtes und sichtete Dokumente im Staatsarchiv. Am Ende seiner Recherchen steht eine autobiographische Erzählung über das Aufwachsen im Horn und Hamm der Nachkriegszeit, die psychischen und sozialen Spuren, die der Krieg bei den Erwachsenen, den Eltern und Lehrern, hinterlassen hatte und das Schweigen über die Vergangenheit. Besonders intensiv beschäftigte sich Brenner, der Psychologie, Soziologie und Betriebswirtschaft studiert hat, mit der Zeit seines Vaters in der Wehrmacht.
„Immer wieder fragt man sich, warum bin ich gerade in diesem Land, zu dieser Zeit, geboren worden?“, erklärt Brenner. Gemeint ist das Land der Verlierer, das Land der Schuld – Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. „Meine Geschichte steht stellvertretend dafür, was viele Kinder der Nachkriegsgeneration erlebt haben“, sagt Brenner, der 1951 in Hamburg geboren wurde. Aufgewachsen ist Brenner in Horn, am Pagenfelderplatz. „Hinter der Washingtonallee türmten sich die Trümmer aus Zentralhamburg auf und ich lebte mit meinen Eltern in einer klitzekleinen Einzimmerwohnung im Dachgeschoss eines Rotklinkerbaus“, erinnert sich Brenner. Fließend Wasser und eine Heizung habe es nicht gegeben. Wenn kein Geld für Kohle da war, brachte sein Vater Holz aus dem Hafen mit, zerkleinerte es im Keller und nutze es zum Heizen. Aus den Nachbarwohnungen seien täglich schreiende Männer und weinende Frauen und Kinder zu hören gewesen. Auch bei Familie Brenner wurde viel gestritten, vor allem, wenn das Geld mal wieder knapp wurde. Kriegsschuld, die eigene Rolle im Dritten Reich, Judenverfolgung – all das blieben jedoch Tabuthemen. Michael Brenners Großeltern lebten in den Behelfsheimen. Bei der kleinen Hütte, etwa so groß wie ein Gartenhaus, wurden Hühner und Kaninchen gehalten, auch Gemüse wurde angebaut. All das half der Familie zu überleben. „Oft habe ich mich für unsere Armut geschämt“, sagt Brenner, „ich hätte mir gewünscht, dass meine Eltern mir besser erklärt hätten, warum wir arm sind“, sagt er weiter. So blieb nur kindliches Unverständnis, zum Beispiel darüber, dass andere Kinder mehr als ein paar Schuhe für den kalten Winter hatten. Brenner erzählt von der großen Armut die im Stadtteil herrschte. Über Banden, die ganze Straßenzüge beherrschten. Ärmer war es noch in Billstedt und südlich der Hammer Landstraße. „Dort wohnten die sogenannten Schmuddelkinder“, sagt Brenner. Die Eltern sagten, dort ginge man nicht hin.
Mitten im Kalten Krieg und zur Zeit des Mauerbaus wurde Michael Brenner 1963 am Kirchenpauer-Gymnasium in Hamm eingeschult. Hier in Hamm, wo es vielen Menschen etwas besser ging, als in Horn und Billstedt, befand sich das östlichste Hamburger Gymnasium. Viele Schüler kamen aus Marienthal oder Hasselbrook, wo das Wirtschaftswunder schon Einzug gehalten hatte, während andere aus den Elendsquartieren in Horn und Billstedt stammten. Das Kirchenpauer-Gymnasium, kurz KIP, beschreibt Brenner als einen bizarren und furchtbaren Ort, der insbesondere geprägt gewesen sei durch ein starkes Autoritätsgefüge. „Viele Lehrer waren verstört und traumatisiert durch die Kriegszeit und das Erlebte an der Front“, sagt Brenner. Die Traumata der Lehrer waren allgegenwärtig und prägten den Unterricht. An der Jugendschule wurde stark selektiert, viele Schüler aus ärmerem Hause hatten nie eine reelle Chance die Schule abzuschließen. „Diese Schule hat gestunken – nach Bohnerwachs und Angstschweiß“, sagt Brennert. Die Lehrer seien Überbleibsel des Krieges und der Wehrmacht, sowie pädagogisch völlig ungeeignet gewesen. Unter ihnen Sadisten und Kinderschänder. „Ich habe vor allem leidvolle Erinnerungen an die Zeit am Kirchenpauer-Gymnasium“, sagt Brenner. Am liebsten erinnere man sich gar nicht. Immer wieder habe es auch sexuelle Übergriffe gegeben. Lehrer, aber auch ältere Schüler, die sich an den Jüngeren vergingen. Auch habe es einen Lehrer gegeben, der in die Toiletten kam und die Jungen beobachtete. Angeblich, um zu kontrollieren, dass keiner dort die Hausarbeiten erledige. Besonders viel wert gelegt wurde auf den Musikunterricht am Kirchenpauer-Gymnasium: „Es wurde gegeigt und georgelt als gäbe es kein Morgen“, sagt Brenner. Für viele Schüler sei die musische Förderung sicher eine Chance gewesen, für Brenner sei jedoch gerade der Musikunterricht besonders schrecklich gewesen. Eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Krieg und den Traumata der Lehrer habe es nie gegeben. Selbst beim 50-jährigen Jubiläum blieb die Schule geschichtslos.
Die verdrängte und nicht bearbeitete Vergangenheit, die Konsequenzen für die Kinder der Kriegsgeneration, welche die Traumata der Erwachsenen am eigenen Leib erlebten, prägen die Geschichte von Michael Brenner. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Wir waren die Kinder der Verlierer, heute verstehe ich es“, sagt Michael Brenner am Schluss seiner Erzählung.
Foto: Michael Brenner Hamburg
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