Auf und davon: Unsere Redakteurin Carolin Wendt hat den Bezirk, die Stadt und Deutschland hinter sich gelassen und entdeckt gerade Israel. Auf ihrem Blog schreibt sie über ihre Erlebnisse. Heute hat sie am Gedenktag des Holocaust Yad Vashem besucht.
Eine Sirene ertönt und ein Land steht für zwei Minuten still. Es schweigt und erinnert sich seiner Geschichte. Es gibt zwei Tage, an denen das in Israel passiert. Einer davon war am Montag und ist den Opfern des Holocausts, dem jüdischen Widerstand und den Untergrundkämpfern des 2. Weltkrieges gewidmet. Der Holocaust-Tag ist ein Gedenk-, kein Feiertag. Offiziell ist es also ein gewöhnlicher Arbeitstag. Aber es ist ein bedrückender. Durch mein Praktikum bei ASF (Aktion Sühnezeichen Friedensdienste) bin ich an diesem Tag mit einer Gruppe von Freiwilligen in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte. Dort werden Kränze vor einem Denkmal aus dem Warschauer Ghetto niederlegt. Die Zeremonie beginnt um zehn Uhr mit einer kurzen Rede. Danach kündigt der Sprecher den Präsidenten Israels, Schimon Peres, an. Er ist der erste, der einen Kranz niederlegt, gefolgt vom Premierminister Benjamin Netanjahu.
Kollektive Erinnerung und Blitzlichtgewitter
Der Holocaust-Tag spielt im kollektiven Gedächtnis der jüdischen Israelis eine besondere Rolle. Ich war zuerst erstaunt, dass scheinbar alle Israelis unabhängig von ihrer Herkunft an diesem Tag den Toten gedenken und Betroffenheit empfinden. Das was geschehen ist, die systematische, grausame Vernichtung von Menschen, berührt alle. Wenn die Sirenen ertönen und alle schweigen, wird die geteilte Geschichte des Hasses und der Verfolgung von Juden jedem bewusst.
Auch mir. Natürlich habe ich den Holocaust-Tag durch den Besuch im Yad Vashem-Museum anders und intensiver erlebt. Wäre ich nicht hier, würden Leben und Alltag um mich herum wie an jedem beliebigen Tag weitergehen. Aber ich bin in Yad Vashem. In Anschluss an die Kranzniederlegung gehen wir in die Halle der Erinnerung. Die Halle hat zwei kleine Eingänge und keine Fenster. Das einzige Licht bringt eine Kerze in der Mitte, die immer brennt. Ein paar wenige Stufen führen zum Boden, der den größten Teil der Halle einnimmt. Auf dem Boden sind die Namen der 22 größten Konzentrationslager geschrieben, die symbolisch für alle Orte der Vernichtung in Europa stehen. Da Gedenktag ist, steht dort ein kleines Rednerpult. Als ich herein komme, stehen vier Jugendliche vor dem Pult. Jeder von ihnen hat eine weiße Blume in der Hand. „I am John from Australia. I lost half of my family in the Holocaust. This goes to…“, dann liest er die Namen seiner Familie vor. Auch die anderen drei sind aus Australien und gedenken einer nach dem anderen ihren Verwandten. Dann legen sie jeweils eine Blume auf dem Namen des Lagers nieder, in dem die Familie umkam.
Eine alte Frau kommt zum Pult, sie faltet zittrig einen kleinen Zettel auf. Ihre Stimme bricht, Tränen laufen über ihr Gesicht. Sie bricht die Rede ab und geht die Stufen hoch. Die Blume hält sie immer noch in der Hand. Danach geht eine Familie zum Rednerpult, drei Generationen: Die beiden Großeltern mit Hut als Sonnenschutz werden von einer Frau und einem Mann gestützt. Der Mann hat ein weißes Hemd an und eine Kippa auf dem Kopf. Daneben stehen die Enkel, die rothaarige Enkelin trägt eine Armee Uniform. Der Großvater liest Namen und einen Brief auf Hebräisch vor. Als sie zusammen die Blume auf den Namen „Auschwitz-Birkenau“ legen, stürmen Kameraleute und Fotografen auf sie zu. Überhaupt sind in der Halle der Erinnerung mehr Fotografen als Zuschauer und –hörer. Das Klicken der gleichen Kameras hat zwei Stunden vorher die Stille der Schweigeminute ausgefüllt.
Veränderte Erinnerungskultur
Interessant ist, wie sich die Erinnerungskultur und der Umgang mit dem Holocaust in Israel mit den Jahren verändert haben. Die Denkmäler auf dem Gelände von Yad Vashem spiegeln diese unterschiedlichen Sichtweisen wider. Das Ehrenmal, vor dem die Kränze niedergelegt wurden, bildet zum Beispiel auf seiner Vorderseite halb nackte, muskulöse Männer mit Gegenständen in der Hand ab und symbolisiert die Auflehnung im Warschauer Ghetto. Als Gegenstück dazu ist auf der Rückseite als Flachrelief der „Zug in die Vernichtung“ dargestellt: gebeugte Frauen, Alte und Kinder ziehen in den Tod. Zwei andere Denkmäler sind dem Widerstand gewidmet: Das ältere besteht aus massiven Holzblöcken für die „glorreichen“ alliierten jüdischen Soldaten, Partisanen und Widerstandskämpfern. Das neue Denkmal ist die Statue eines Baumes, dessen Äste und Zweige hunderte von Menschen sind, die sich gegenseitig halten – Wurzeln, Geborgenheit, (Zusammen-)Halt – auch das ist Widerstand.
Nach der Staatsgründung Israels (1948) bezog sich der öffentliche Diskurs über die Geschehnisse im Dritten Reich vor allem auf die jüdischen Widerstandskämpfer und die Partisanen. Erst gute 13 Jahre später kam es zur einer Wende. Grund war der Eichmannprozess, der 1961 in Jerusalem stattfand. Adolf Eichmann war während des Krieges SS-Führer und für die Ermordung von Millionen von Juden verantwortlich. Der gesamte Prozess wurde im israelischen Radio übertragen. Während des Prozesses wurden über 100 jüdische Zeugen angehört. Ich habe früher Ausschnitte aus dem Prozess gesehen und bekomme noch heute Gänsehaut, wenn ich mir vorstelle, wie die Zeugen ihre Erlebnisse aus dem Krieg und den KZs oft zum ersten Mal erzählten. Und wie Hundertausenden die Realität dieser Erfahrungen Geschichte für Geschichte zum ersten Mal vor dem Radio sitzend bewusst wird. Vor allem durch die Wirkung dieses Prozesses wandelte sich das Bild auf die Überlebenden und auch Verstorbenen: Eine Anerkennung des Leids, Forschung, und eine Öffnung im Privaten begannen. Heute sind 4,8 Millionen Namen der sechs Millionen Opfer bekannt. Dies vor allem durch die Arbeit von Yad Vashem.
„Rachel, nine years old, Poland“ – Das Denkmal für die Kinder
Ein Prinzip von Yad Vashem ist es, Abstand bei der Vermittlung der Geschichte zu wahren. Geschichte wird durch Denkmäler, die nie personenbezogen sind, und in verschiedenen Museen dargestellt. Nie werden dort Täter angeklagt oder der Holocaust als Rechtfertigung für irgendetwas genutzt. Ein Waggon, in dem hunderte von deutschen Juden deportiert wurden, steht auf Schienen. Man kann die Geschichte eines Überlebenden lesen, den Waggon aber nicht berühren. Eine Ausnahme von dem Prinzip der Distanz ist das Denkmal für Kinder. Es ist ein dunkler, unterirdischer Raum. Als ich ihn betrete, sehe ich nichts außer einem Sternenhimmel. Über mir, neben mir, unter mir. „Rachel, nine years old, Poland.“ Eine Stimme nennt Namen, Alter und Geburtsland von Kindern, die ermordet wurden, abwechselnd in Hebräisch, Yiddisch und Englisch. Das Tonband braucht drei Monate, um alle 1,5 Millionen Namen wiederzugeben.
Am Nachmittag steige ich nach einem Tag mit gemischten Gefühlen auf mein Fahrrad. Auf dem Weg vom Mount Herzl, wo sich das Museum befindet, kommt mir bergab Wind entgegen und ich bin irgendwie erleichtert, wieder so viel Leben und Normalität in der Stadt zu sehen.
Ihr habt den Anfang von Caros Reise verpasst? Hier könnt ihr nachlesen, was sie bisher erlebt hat.
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Foto: צילום:ד“ר אבישי טייכר [CC-BY-2.5 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.5)], via Wikimedia Commons
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