Stadtgespräch

Von China nach St. Pauli

Stadtgespräch
Vanessa Kleinwächter

Mittendrin-Praktikantin | Mail: kleinwaechter@hh-mittendrin.de

Hamburgs Straßen haben viele Geschichten zu erzählen, deren Spuren noch heute im Stadtbild zu entdecken sind. Vanessa Kleinwächter hat sich auf die Spuren einer kaum bekannten Seite von St. Pauli gemacht – dem „Chinesenviertel“.

Die Schmuckstraße ist eine eher unauffällige Seitenstraße auf St. Pauli. Wer hierher kommt, ist meist einfach nur auf dem Weg zur Reeperbahn. Nur wenig erinnert noch daran, wie es hier vor einigen Jahrzehnten einmal ausgesehen hat. Würdigt man dem Bürgersteig vor der Hausnummer sieben jedoch eines genaueren Blickes, stößt man auf einen Stolperstein des Künstlers Gunter Demnig. Hier wohnte früher der Chinese Woo Lie Kien, der eine Gaststätte ein Haus weiter betrieb. Das Haus der Nummer neun ist heute mit Schriftzügen übersät. Als ehemaligen Treffpunkt für chinesische Seeleute würde man es nicht mehr erkennen.

Per Dampfschiff nach Westen

Schmuckstraße 9 | Foto: Vanessa Kleinwächter

Als ein solcher Seemann war Woo Lie Kien zu Beginn des 20. Jahrhunderts regelmäßig nach Deutschland gekommen – wie viele seiner chinesischen Kollegen auch. Etwa zehn Prozent der Stellen in der deutschen Schifffahrt waren damals von Chinesen besetzt. Von Armut und Hunger sowie der der Hoffnung auf bessere Aussichten in den Westen getrieben, fuhren die Männer zur See und ließen dabei oft ihre Frauen und Familien zurück. Europäische und somit auch hamburgische Reedereien setzten sie als Billiglohnkräfte ein. Da die chinesischen Arbeiter nur schlecht gebildet waren und auch kaum Deutsch sprachen, war es für sie eine der wenigen Möglichkeiten, hier Geld zu verdienen. Das Dampfschiff war gerade erfunden worden und unter dem Vorwand, sie wären „hitzebeständiger“, wurden die Chinesen als Heizer und Kohleschlepper eingesetzt. Oft unterschrieben sie dazu Verträge, die sie mehrere Jahre an ihren Arbeitgeber banden, und erhielten einen geringeren Lohn als ihre deutschen Kollegen. Für viele änderte sich das im Mai 1921, als das Deutsche Reich nach Jahren der Kolonialpolitik einen Friedensvertrag mit China unterzeichnete. Dieser gab Angehörigen der beiden Staaten die Möglichkeit der wirtschaftlichen Betätigung im jeweils anderen Land.

So konnten die chinesischen Seeleute, die bereits seit längerem regelmäßig in der Hansestadt anlegten, sich hier niederlassen. Viele nutzten diese Gelegenheit und siedelten sich auf St. Pauli und in Altona an, wo sie Restaurants und Wäschereien eröffneten. Da sie nicht sehr vermögend waren, mussten viele in Kellerwohnungen ausweichen – was schnell das Bild einer exotischen „Unterwelt“ mit Schmuggel, Drogenkonsum und illegalem Glücksspiel nährte. So sprach man regelmäßig von „Opiumhöhlen“ und es gibt bis heute immer wieder das Gerücht, die Chinesen hätten gar ein unterirdisches Tunnelsystem angelegt. Dem widerspricht der Historiker Dr. Lars Amenda, der über die chinesische Migration nach Hamburg promoviert hat: „Als ob es möglich gewesen wäre, dass ein paar hundert Chinesen so ein Bauvorhaben völlig unbemerkt durchgeführt hätten!“

Stolperstein Schmuckstraße 7 | Foto: Vanessa Kleinwächter

Denn die chinesischen Migranten standen unter besonderer Beobachtung durch die Behörden und wurden von ihnen rassistisch behandelt. Ein Polizeipräsident machte 1921 unmissverständlich deutlich, dass die chinesischen Migranten in Hamburg nicht erwünscht seien und ihre Niederlassung „nicht nur im sanitären, sondern auch im allgemeinen deutschen Interesse mit allen Mitteln verhindert“ werden müsse. Regelmäßig wurden Razzien dort durchgeführt, wo man den Konsum und Handel von Drogen vermutete oder dies zumindest vorgab. „Erfolgreich“ waren diese nur selten.

Klischees, Rassismus und Berührungspunkte

Auch in der deutschen Öffentlichkeit wurden die Chinesen kritisch bis ablehnend beäugt. Durch die Kolonialpolitik und den blutig niedergeschlagenen Boxer-Aufstand im Jahr 1901 war China in der Bevölkerung präsent, jedoch nicht im positiven Sinne. Dieses Bild zog sich auch durch die Literatur: Weltbekannt wurde die später auch verfilmte Romanreihe um den weltherrschaftshungrigen Dr. Fu Manchu, die der britische Journalist Arthur Henry Sarfield ab 1913 unter Pseudonym veröffentlichte. Aber auch in den in den 1930ern sehr beliebten deutschen Kriminalromanen wurde häufig das Bild des Exotischen gezeichnet und Kriminalität als für die Migranten typisch dargestellt.

Sogar der Brockhaus übernahm Stereotype als wissenschaftliche Fakten: Bei der Darstellung von Chinesen wurde oft vereinfacht und die Unterschiede zur europäischen Kultur hervorgehoben. Obwohl die Seeleute, die nach Hamburg kamen, nicht nur aus China, sondern teilweise auch aus Indien und Afrika stammten, wurden sie häufig einfach unter dem Begriff „farbige Seeleute“ zusammengefasst. Zudem etablierte sich für die Schmuckstraße und die umliegenden Straßen die Bezeichnung des „Chinesenviertels“ oder gar einer „Kolonie“, obwohl es sich in Wahrheit nur um wenige hundert Migranten handelte, die sich hier aufhielten. Ein „Chinatown“ wie beispielsweise in Amerika war es bei Weitem nicht.

Andererseits gab es aber auch Leute, die die chinesische Küche sehr schätzten und regelmäßig in den Restaurants und Tanzlokalen wie dem „Neu-China“ der ehemaligen Seeleute einkehrten. Besonders in den 20er-Jahren konnten sie sich zu beliebten Treffpunkten etablieren und waren auch wirtschaftlich erfolgreich. St. Pauli gelangte so zum Ruf eines internationalen und bunten Viertels. Mit der Zeit gab es auch immer mehr deutsche Frauen, die in Partnerschaften mit Chinesen lebten.

Von den Nazis deportiert

Sein trauriges Ende fand das „chinesische Viertel“ in der Zeit des Nationalsozialismus. Zwar spürten die Chinesen zunächst noch nicht viel von dem Machtwechsel, doch 1938 wurde eine „Reichszentrale für Chinesen“ eingerichtet. Diese registrierte alle chinesischen Händler sowie weiteren Personen, die als verdächtig eingestuft wurden. Um an Devisen für die Rüstungsindustrie zu gelangen, erließ man die Vorgabe, dass ausländische Währungen umgehend an Banken abgegeben werden mussten – selbst, wenn es sich nur um sehr geringe Beträge handelte. Noch stärker als bereits zuvor wurde das Bild einer kriminellen Vereinigung konstruiert. Nachdem Deutschland 1941 die diplomatischen Beziehungen zu China abgebrochen hatte, spitzte sich die Lage für die Chinesen deutlich zu. So waren sie etwa beim amerikanischen Luftangriff auf Hamburg 1943 von den Luftschutzbunkern ausgeschlossen. Am 13. Mai 1944 schließlich führte die Gestapo unter der Leitung von Erich Hanisch die sogenannte „Chinesenaktion“ durch. Die verbliebenen Chinesen wurden verhaftet und ins Polizeigefängnis Fuhlsbüttel gebracht. 60-80 von ihnen sowie einige deutsche Frauen, die Beziehungen mit Chinesen eingegangen waren, wurden später ins Arbeitserziehungslager „Langer Morgen“ in Wilhelmsburg deportiert. Viele wurden schwer misshandelt, mindestens 17 starben bis Kriegsende. Die meisten Überlebenden verließen nach der Befreiung das Land.

Zum Gedenken

Gedenktafel Chinesenviertel | Foto: Vanessa KleinwächterWas bleibt, ist eine Gedenktafel am Anfang der Schmuckstraße, die auf Deutsch und Englisch an das Leben der chinesischen Seeleute in Hamburg erinnert. Auch am ehemaligen Standort des Arbeitserziehungslagers ist eine Gedenktafel angebracht. Eine Gedenkstätte oder ein Museum, wie man es von anderen Lagern kennt, gibt es jedoch nicht: der „Lange Morgen“ wie auch der Großteil der schriftlichen Zeugnisse sind im Krieg komplett zerstört worden. Dafür trägt die Tochter des chinesischen Seemanns Chong Tin Lam sein Andenken weiter. Er hatte Hotel und Bar am Hamburger Berg auch nach Ende des Krieges weitergeführt. Als er 1983 starb, übernahm sie die bekannte „Hong Kong Bar“, sodass diese bis heute weiterexistiert. Ein Schild am Eingang weist auf ihre Geschichte hin. Zudem schrieb der Autor und Lichtkünstler Michael Batz 2004 ein Dokumentarstück im Auftrag der Hamburger Bürgerschaft, das sich unter dem Titel „Morgen und Abend der Chinesen“ mit dem Leben der chinesischen Migranten auf St. Pauli beschäftigte.

Schmuckstraße | Foto: Vanessa KleinwächterEine „Randnotiz“ der hamburgischen Geschichte nennt Dr. Lars Amenda die Geschichte der chinesischen Seeleute in Hamburg – wenn auch eine sehr charakteristische. „Damals wie heute hat sich Hamburg sehr stark als Hansestadt wahrgenommen und profiliert. St. Pauli und der Hafen waren und sind das ‚Aushängeschild‘ des Stadtmarketings. Und der Hafen war schließlich die Voraussetzung für die Entstehung des chinesischen Viertels, zumindest in dieser Art.“ Obwohl dieser Aspekt der Geschichte der Schmuckstraße vor allem in historisch interessierten Kreisen präsent ist, habe sich die Öffentlichkeit für das Thema bereits verbessert: „Vor zehn oder 15 Jahren fand man dazu in der populärwissenschaftlichen Literatur so gut wie gar nichts. Inzwischen wird es immer mal wieder aufgegriffen.“ Auch über eine filmische Aufarbeitung sei nachgedacht worden, was bisher aber nicht umgesetzt wurde. Peter Hess von der Stolperstein-Initiative Hamburg meint: „Das Thema sollte vermehrt an jüngere Menschen herangetragen werden.“ Vielleicht könnte dafür gesorgt werden, dass zwischen Partymeile und Tourismusmetropole die Erinnerung an das Leben der chinesischen Seeleute auf St. Pauli wach bleibt.

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