Mit einem neuen Gesetz kann die Stadt Hamburg Immobilien beschlagnahmen, um Flüchtlinge unterzubringen. Für Jan Freitag liegt ein Hauch von Sinneswandel in der Luft, dass Leerstand weder Privatsache noch Kavaliersdelikt ist.
Das Grundgesetz listet bekanntlich frühzeitig ein paar fundamentale Rechte auf, die heute wie vor 66 Jahren schlichtweg nicht verhandelbar sein sollen: Gleich vorweg die unumstößlichen Schutzgüter Würde, Körper, Geist und Seele, dicht gefolgt von Freiheiten wie Glaube, Meinung, Presse, Berufswahl, solche Sachen. Bis auf Schul- und Wehrpflicht verlangen die Bürger also erstmal einiges vom Staat – der sich dann in Artikel 14, Absatz 2 endlich mal was für sich herausnimmt: „Eigentum verpflichtet“, heißt es da seltsam literarisch. Enteignungen zum Wohle der Allgemeinheit bedürften zwar einer gesetzlicher Basis bei angemessenem Ausgleich. Sie sind aber erlaubt. Grundsätzlich. Olaf Scholz weiß das gut. Von Beruf ist er Anwalt.
Nun unterstellt man Juristen wie ihm gern, dass sie am Formellen kleben wie Paragrafen im Amtsschreiben. Zumal dann, wenn sie im Haupterwerb Politiker sind. Nun allerdings hat der ernste Bürokrat im Ersten Bürgermeister, dem zwar so mancher Wahlsieg, aber auch eine eher spröde Aura zu verdanken ist, endlich sein Herz geöffnet, ohne gleich das Gesetzbuch zuzuklappen: Bis Mitte Oktober will der rot-grüne Senat auf Initiative von Justizsenator Till Steffen ein „Gesetz zur Flüchtlingsunterbringung“ in die Wege leiten, das Behörden den rechtlichen Rahmen zur Beschlagnahme leerstehender Gewerbeflächen vorgibt.
Klingt dröge, ist explosiv.
Denn trotz des duften Gedankens der Grundgesetzväter (plus eine Mutter), Privatbesitz rein theoretisch unter die Einflussgewalt des Allgemeinwohls zu stellen, hat sich der Eigentumsschutz im Verständnis der Menschen hierzulande klammheimlich so konsequent Richtung Präambel vorgerobbt, dass dem Recht auf, sagen wir: ein eigenes Smartphone mittlerweile mehr Bedeutung beigemessen wird als dem auf, sagen wir: saubere Umwelt zulasten, sagen wir: der freien Fahrt für freie Bürger. Und mitten hinein in diese Besitzstandswahrermitte pfeffert der wirtschaftsfreundlichste Sozialdemokrat seit dem Industriefreund Wolfgang Clement plötzlich seine Idee vom Bürogebäude, das die Hansestadt vorm drohenden Winter mit all den Hilfsbedürftigen füllt, die in der globalen Dauerkrise grad ungebremst nach Hamburg getrieben werden.
Das ist zum Herzerweichen hinreißend, nicht nur aus humanitären Gründen dankenswert, macht in Zeiten, da sogar die „Bild“ kurz mal von rassistischer Dummheit aufs pragmatische Demut schaltet, bereits Schule in anderen Bundesländern. Und es ist weit über die kurzfristige Wiederbelebung alter SPD-Werte wie Solidarität oder Mitgefühl auch stadtsoziologisch von Belang. Schließlich steht im stinkreichen Hamburg so derart viel Gewerberaum leer (von unrentabler Altbauwohnsubstanz ganz zu schweigen), dass im Grunde ein Errichtungsstopp für Büros jeder Art geboten wäre.
Für den Anfang ganz schön
Das ist natürlich reine Fantasie; Bauen gilt ungeachtet der späteren Nutzung als Ausweis anpackenden Regierungshandelns schlechthin. Wenn aber Flüchtlinge in Gebäudebrachen einquartiert werden, könnte sich nicht nur der juristische Rahmen für sozial genutzten Privatbesitz ändern; es läge ein Hauch von Sinneswandel in der Luft, dass Leerstand weder Privatsache noch Kavaliersdelikt ist, sondern schlichtweg – hier passt dieses vergiftete Wort mal wirklich: asozial.
Dass die bürgerliche Mitte von CDU bis FDP bei derlei Eingriffen ins prall gefüllte Festgeldkonto ihrer wohlhabenden Kernklientel notorisch aufheult, kann man da als Kniesehnenreflex der Ungleichheitsverfechter getrost ignorieren: Erst, wenn Immobilienbesitz in der Freien und Abrissstadt Hamburg wirklich eine Art Allgemeinwohlgedanken entfaltet, kann es darin so was wie soziale Wärme geben. Den Flüchtlingen reicht bis dahin ein beheiztes Zimmer im enteigneten Büroblock. Für den Anfang ganz schön.
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