Es gibt in Hamburg noch städtebaulichen Gestaltungsspielraum, besonders dann, wenn die Menschen aufbegehren. Es steht zwei zu eins. Zeit für den Ausgleich, findet Jan Freitag.
Von Städten ist bekanntlich oft als Organismus die Rede, als seien es Stein gewordene Wesen mit Adern, Puls und Muskelzucken. Städte wären demnach Orte, die mehr aus sich selbst heraus wachsen als von Menschenhand errichtet zu werden. So weit die Theorie, eine wunderschöne Theorie, lange Zeit durch die Historie gedeckt – erfüllt sie ihren Beobachtungsgegenstand doch mit Seele, Wärme, Leben. Die Praxis aber sieht leider doch ein wenig anders aus.
Da Städte zusehends nach betriebswirtschaftlicher Akten- und Ertragslage mächtiger Interessengruppen gestaltet werden, sind Seele, Wärme, Leben, also alles was fließt und pocht und zuckt darin allenfalls als ökonomische Parameter verzeichnet. Würde es den Marktwert der Marke Hamburg samt ihrer immobilen Filetstücke und Hanglagen erhöhen – Oberbaudirektor Jörn Walter zögerte gewiss keine Sekunde, die halbe Stadt stumpf mit Beton zu verfüllen, wofür Olaf Scholz fraglos eigenhändig am Mischer stünde, um Tempo aufzunehmen, im Dienste von Investoren, Geldadel, Aufwertungsstrategen.
Seelenlos, kalt, bald tot
Dieses Denken glasstahlhart rechts an den Bedürfnissen der Bewohner aus Fleisch und Blut vorbei macht die einst so eigensinnige Hafenmetropole mit ihrem frisch gekürten Weltkulturerbe-Ensemble längst verwechselbar, tendenziell hässlich, kurzum: seelenlos, kalt, bald tot. Das wäre zumindest der medizinische Ganzkörperbefund eines Organismus im Spätherbst seines Daseins. Unterm Mikroskop betrachtet hingegen hat diese Stadt dann doch unterschiedlich akute Infektionsherde wie ein sterbenskranker, längst noch nicht hinfälliger Leib, unterschiedlich intakte Biosphären also wie ein verseuchter Planet. Es fließt und pocht und zuckt weiter gehörig. Man muss nur genau hinsehen, wo.
In Pöseldorf etwa mögen Menschen mit mehr Empathie als Moneten noch so eifrig protestieren: Die vermögend asozialen Besitzstandsbewahrer elitärer Erbpachthöfe an der feudalen Sophienterrasse haben einen gerichtlichen Vergleichsvorschlag abgelehnt, die Zahl der Insassen des geplanten Flüchtlingsheims von 220 auf 190 zu reduzieren, weshalb das mitfühlend rassistische Herrenvolk vor Ort nach allen Regeln des realkapitalistischen Gegeneinanders also weiter unter ihresgleichen bleiben dürfte.
Standortpolitik als Medikament
In St. Pauli etwa mögen Menschen mit mehr Motivationsproblemen als Kampfkraft noch so eifrig schwarzsehen: die abgerissenen Esso-Häuser an der Reeperbahn kriegen ein erstaunlich sozialverträgliches Nachfolgekonzept mit hohem Sozialwohnungsanteil und vergleichsweise wenig Kommerz, weshalb die Investorin Bayerische Hausbau auf der chronisch übellaunigen Stadtteilversammlung unlängst allen Ernstes kurz mal Applaus geerntet hat.
In Altona etwa mögen Menschen mit mehr Heimatverbundenheit als Gewinnmaximierungsdenken noch so klagen: Auf dem alten Parkplatz des Zeise-Kinos im Herzen Ottensens entsteht gerade ein kolossaler Bürokomplex für locker 1000 Werber, von denen die meisten für den Branchenprimus WWP samt Scholz & Friends arbeiten, die dem gentrifizierten Viertel den Todesstoß als Wohnraum versetzen dürften, wogegen auch ein Bürgerentscheid wenig ausrichten dürfte.
Es sind dies drei Beispiele akuter Standortpolitik, die sich scheinbar widersprechen, gemeinsam verabreicht allerdings wirken wie ein komplexes Medikament. Zeigen sie doch, dass tatsächlich noch städtebaulicher Gestaltungsspielraum herrscht, und zwar nicht nur, wenn Interessensgruppen mit Geld, Macht und Einfluss um sich schießen, sondern manchmal (auch wenn diese Kolumne im Winter noch das Gegenteil behauptet hat) gar, wenn Menschen ohne derart scharfe Munition die Reihen schließen und aufbegehren. Zwischenstand zwei zu eins. Die Zeit ist günstig für den Ausgleich.
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