Schon so mancher Seemann ist im Seemannsheim Krayenkamp gestrandet und hat hier ein festes Zuhause gefunden. Vanessa Rehermann hat einen von ihnen besucht.
Foto: Henry Lührs
Feuer, Einatmen, Ausatmen. Im Viertelstundentakt rutscht eine penibel gerollte Zigarette aus dem Tabakbeutel, Mario Corelli* hat vorgesorgt für den Nachmittag. Vor der Glastür des Raucherraums klackert ein Rollkoffer über beige Fliesen, ein paar Latinos steigen lachend die Treppen hinauf. Ständig blickt der 60-Jährige auf. Zu jedem Vorbeigehenden kennt er eine Anekdote. Der eine sei Kapitän, aber kentere beim Kanufahren, der andere wolle nach Brasilien, aber sei hier als Erdbeerverkäufer hängengeblieben. Wenn Corelli erzählt, reißt er die Arme hoch, auf dem Linken verblasst ein Tattoo in schmieriges Blau-Grau. „Lügst du schon wieder?“, ruft der Erdbeerheld herüber, ein hagerer Endfünfziger mit dunkler Jacke. Corelli lacht. Wäre er nicht so ein kräftiger Geselle, würde man es kichern nennen, er winkt ab und erzählt eine neue Geschichte.
„Liebe machen und ein bisschen arbeiten“
Was das Tattoo einst zeigte? Wieder winkt er ab. „Jugenddummheit“, sagt er und zündet sich eine neue Zigarette an. Seit über drei Jahren wohnt „der Schweizer“, wie ihn alle nennen, im Hamburger Seemannsheim Krayenkamp. Nur einen Steinwurf vom Hafen entfernt bietet es Seeleuten ein Zimmer, Verpflegung und ein offenes Ohr. Was eigentlich eine Unterkunft für nur einige Tage sein soll, ist derzeit für Corelli und knapp 40 andere ein dauerhaftes Zuhause. Er selbst sieht das Krayenkamp nur als Durchreisestation: Eine Postkarte aus Linz ist der einzige persönliche Farbklecks in seinem Zimmer. Wenn er die Tür öffnet, riecht es, als habe man einen Aschenbecher ausgekippt. Leere Einwegflaschen und unzählige Plastiktüten verraten, dass er schon lange hier Halt macht. „Ich bin wie ein Vogel, heute hier, morgen da“, sagt er, „ein Abenteurer.“ Als Matrose, Steward und Koch schlug er sich 23 Jahre auf See durch. Die Erinnerungen sind seine Gegenwart, im Gespräch reiht er Anekdote an Anekdote. „In Finnland, da hat jeder von uns eine Freundin gehabt und in Südafrika, da gab’s eine reiche Frau, die hätte mir alles gegeben, sag ich dir… romantisch war das damals, Liebe machen und ein bisschen arbeiten, aber nicht zu viel.“
Seit 1997 fährt er nicht mehr zur See. „Kein Bock mehr auf den Stress“, sagt er. Ein schwerer Unfall, wird die Heimleiterin später erzählen. Das unstete Leben hat er mit an Land genommen: Als Schausteller zog er durch die Gegend und lebte in Bremen, wo er einen großen Freundeskreis gehabt habe. „Aber die sterben alle weg oder sind ausgewandert, was soll ich dann noch Geld für das Zugticket ausgeben?“ Mit Spazierengehen und Radfahren verbringe er seine Zeit. „Schau mal, meine Rennmaschine“, sagt er und deutet auf ein blank poliertes Damenrad im Wohnungsflur. Kräftig greift er in die Bremsen, als ginge es einen Berg hinunter. Richtig gefahren, gibt er später zu, habe er es noch nicht. „Du findest keine Leute mehr“, rechtfertigt er sich, „das sind alles Idioten hier und allein macht das alles keine Lust.“
„Eigentlich wollte ich gar nicht so lange hierbleiben“
Stattdessen träumt Corelli von einem Hotel in Griechenland – dem Ort, wo er sich zuletzt zu Hause gefühlt habe. Zwei Schritte sind es vom Rad bis zur Zimmertür, zwischen Knabberzeug und Einwegflaschen kramt er vom Boden eine Plastiktüte hervor. Alte Fotos rutschen heraus, krausige Dauerwellen erinnern an vergangene Jahrzehnte. „Das ist die Kari, die hätte ich sogar geheiratet, das sag ich dir! Aber elendig erstickt ist die an einem Asthmaanfall! Und hier die Georgina, die hat mich auch schon immer geliebt! Du guckst ja gar nicht richtig! Ist die hübsch oder ist die hübsch?“ Foto für Foto nimmt er in die Hand, lässt erraten, wen es wohl zeigen mag. Aus der Schweiz finden sich nur wenige. Dass Corelli das letzte Mal zum Telefon griff, um die Schwester in Luzern anzurufen, ist vier Jahre her. Wo genau seine Eltern begraben liegen, weiß er nicht.
In Georginas Hotel in Griechenland wolle er den Lebensabend verbringen – bekannt wie ein bunter Hund sei er da, einige Gäste seien griechische Berühmtheiten, selbstverständlich auch seine Freunde, er könne ganze Bücher darüber schreiben. Wie viele verlässliche Handlungsfäden dabei sein Seemannsgarn zusammenhalten, weiß vermutlich nur er selbst. Sie alle führen jedoch zurück an die Ägäis. „Da gehöre ich hin, eigentlich wollte ich gar nicht so lange hier bleiben.“
Seit Januar arbeitet er als Nachtwächter im Seemannsheim – um ein paar Reserven zu haben, wenn es doch nicht klappt mit dem Sechser im Lotto. Mit dem Geld an der Seite will er noch einmal anfangen zu leben, bei Georgina. Vielleicht nicht mehr diesen Sommer. Aber bestimmt im nächsten.
*Name von der Redaktion geändert
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