Jan Freitag hat sich durch den Fernsehdschungel dieser Woche gekämpft und dabei die neuen Protagonisten der kommenden Quotenjagd entdeckt.
Jetzt ist es amtlich: „Deutschlands Beste“ sind mit Y-Chromosom Helmut Schmidt, mit Doppel-X: Angela Merkel. Dafür braucht das ZDF nicht mal Demoskopen; öffentlich-rechtlich reicht ein Johannes B. Kerner zur besten Sendezeit dicke. Seltsam, dass der erste Fußballer erst auf Rang 17 folgt. Er heißt weder Neuer (32) noch Lahm (46), sondern wie immer: Uwe Seeler.
Per Mertesacker stand übrigens nicht zur Wahl. Dabei hätte er gute Chancen gehabt, zwischen Schumi und Gröni im Mittelfeld zu landen, nachdem er im Interview mit dem gewohnt schlicht (nicht dämlich) fragenden Boris Büchler deutlich aggressiver zu Werke ging als im Achtelfinalspiel gegen Algerien zuvor. Was folgte, war ein stattlicher Shitstorm – nein, nicht gegen die putzige Volte des Verteidigers („ich leg mich jetzt erstmal drei Tage in die Eistonne“), sondern die Vertreter von Büchlers Branche, die Sportlerinterviews wahlweise mit serviler Huldigung oder scheinheiliger Kritik füllen und Inhalt durch Begriffe wie „Wow-Effekt“ ersetzen.
Auf zur Quotenjagd
Den erzeugte bis jetzt jede Übertragung jedes noch so belanglosen Fußballspiels. Der unfassbare Zuspruch gipfelte in unfasslichen 85,1% Sehbeteiligung beim erwähnten Achtelfinale, was aber auch am eklatanten Mangel an Alternativen auf anderen Kanälen lag. Zumal noch nicht lief, womit demnächst auf Quotenjagd gegangen werden soll. Zum Beispiel die neue Charmeattacke der RTL-Allzweckwaffe Guido Maria Kretschmer, der demnächst „Deutschlands schönste Frau“ auf dem Ableger Nitro sucht. Oder der Vorabendableger des ARD-Produktes „In aller Freundschaft“, dem ab Herbst „Die jungen Ärzte“ angehängt wird. Und da ist noch gar nicht von den 20 Samstagsshows die Rede, mit denen Pro7 im zweiten Halbjahr „Wetten, dass…“ vergessen machen will. Was konkret heißt: viel Raab, viel Joko, viel Klaas, wenig Neues.
Trotzdem Geiiiiiil, würde die Fechterin Britta Heidemann jubeln. Feiert sie doch im ARD-Morgenmagazin von Brasilien aus alles, was irgendwie deutsch ist. Die Topnachricht lautet daher: Mit der WM endet Sonntag auch die Sendezeit einsilbig überdrehter Gastmoderatoren à la Salihamdzic, dessen journalistischer Mehrwert trotz aller Nähe zu seinen früheren Kollegen unter dem einer besoffenen Büttenrede liegt.
Nur eine Simulation
Weit höher liegt er Donnerstag bei „Der Rassist in uns“, was dem Publikum dummerweise schon im Titel etwas zu viel Selbstkritik abverlangt, um es zu erreichen. Und wie zur Bestätigung verpasst das ZDF der Selbsterfahrungsreportage die alberne Relevanz-Chiffre „Social-Factual-Format“ und versendet sie nicht nur im Spartensender neo, sondern nach 22 Uhr, was eine Einschaltquote gen Null garantiert. Dabei mag das Experiment, drei Dutzend Probanden in ein rassistisches System vermeintlich minderwertiger Blau- und überlegener Braunäugiger einzuteilen, wissenschaftliche Schwächen haben; im Ergebnis veranschaulicht der dreistündige Versuch erschreckend, wie fix willkürliche Ausgrenzung entsteht. Und es ist nur eine Simulation…
… Wie das, was RTL dem 2. WM-Halbfinale entgegensetzt, wenn dort angeblich echt ausgegrenzten Mittwoch von den Zwegats und Poschs des Hilfsfernsehens kommerzieller Art beigestanden wird. Aber was die anderen Sender in Konkurrenz zu den vier Finalspielen bis Sonntag auch bringen – ist eh völlig egal, bei Quoten nah an den 100 Prozent. Da können wir uns gleich den Randlagen des Programms widmen, die auch ohne Weltsport chronisch unterfrequentiert wären.
Tipp der Woche
Eine Retrospektive des dänischen Regisseurs Nicolas Winding Refn zum Beispiel, der es in Sachen Suspense zum legitimen Erben Alfred Hitchcocks bringt. Ab Mittwoch zeigt 3sat einige seiner Filme, erst „Walhalla Rising“ um Mitternacht mit Mats Mikkelsen als sturmumtoster Wikinger, fortgesetzt tags drauf durchs Drama „FearX“, in dem ein Wachmann den Tod seiner Frau nachspürt und Abgründe ihrer Existenz entdeckt, die besser unentdeckt geblieben wären.
Spürnasen anderer Art kommen dagegen ab heute auf ZDFneo zum Einsatz, genauer: abermals. Täglich um 16.45 Uhr laufen digital sanierte Doppelfolgen von „Drei Engel für Charly“, ein Feuerwerk zu großer Kragen und zu breiter Schläge. Stünde das Wort nicht auf dem Index des Kultivierten, man müsste es mit dessen erster Silbe umschreiben. Daher zu einem anderen „K“, dem Deutschen Kleinkunstpreis, und weil gut ist, was alliteriert: Kategorie Kabarett. Die wird heute um 21.45 Uhr bei 3sat verliehen. Und der Titel „Tipp der Woche“ geht heute (ARD) an die TV-Premiere von „Ziemlich beste Freunde“.
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