Studentin Camilla Lindner mag alte Menschen sehr. In Vorlesungen an der Uni verhalten Sie sich aber irgendwie anders als sonst: Entweder ergänzen sie Themen mit Monologen oder nicken alles ab. Beides nervt, findet sie. Das Mittelmaß hat sie leider erst selten gefunden.
Beim Betreten des Vorlesungssaals ist die Trennung sofort sichtbar: alte StudentInnen sitzen vorne, junge StudentInnen hinten. In dem recht karg besetzten Saal der Universität Hamburg findet die Vorlesung englische Literatur- und Kulturtheorie statt. Rund 50 Studierende sitzen dort – gut ein Viertel davon sind ältere Gasthörer, sogenannte SeniorenstudentInnen.
Der Hellsehersinn
Die benannte Vorlesung läuft immer ähnlich ab. Während die Professorin über die verschiedenen Literatur- und Kulturtheorien spricht, wird vorne kräftig mitgenickt und zustimmend „mhhh“ gemurmelt. „After the theory of Derrida, everything is a text. Also the human being.“ Nick, nick. Auch gut, dass die älteren Damen und Herren so eine Art Hellsehersinn haben. „I don`t know if you remember when we talked about Semiotics …“, beginnt die Dozentin und schon nickt der Mann in dunkelrotem Hemd ihr energisch zu. Oft kommt es bei solchen Vorlesungen zu dem typischen Phänomen: Die Professorin spricht nur zu den ersten Reihen, die mit SeniorenstudentInnen gefüllt sind.
Und da diese ständig am Kopfschütteln sind, übersieht der ein oder andere Dozent die Fragen der StudentInnen aus den hinteren Reihen – schließlich heißt das Kopfnicken in unserer Kultur: „Ja, ich stimme dir zu“. Und wenn dann gleich dutzende von Köpfen hin- und her wackeln, dann heißt das „Ja, wir alle hören und stimmen dir voll und ganz zu“. Eigentlich schade, dass da alles abgenickt wird und keine kritischen Fragen mehr gestellt werden.
Dann gibt es aber auch noch den Fall des ausführlichen Hinterfragens eines Themas in Form von Monologen. Lassen wir den Vorlesungssaal der Anglisten hinter uns und begeben uns zu der Vorlesung „Regieren in Mehrebenensystemen“ der Politikwissenschaftler. Nachdem die Professorin zum aktiven Mitdiskutieren angeregt hat, lassen sich die Herrschaften in den ersten Reihen diese Gelegenheit nicht entgehen. Zur Europäischen Union fällt einem schließlich ganz schön viel ein. Der Vorlesungssaal bietet Raum zur Äußerung des am Morgen aus der Süddeutschen Zeitung erworbenen Wissens.
Brezelarme
„Könnten Sie das nochmal wiederholen? Viele Kommilitonen konnten das nicht verstehen“, ruft ein Mann in dunkelrotem Hemd auf einmal aus den letzten Reihen des großen Vorlesungssaals. Der Herr vorne lässt sich jedoch nicht so leicht stören und redet weiter: Über Griechenland und die Eurokrise. Das führt zu dem bekannten Phänomen des Lärmpegelanstieges. Junge Kommilitonen rollen mit den Augen, tuscheln und lachen mit dem Sitznachbarn. Der Mann neben mir dreht an seinem Hörgerät und schiebt meinen auf seine Fußbodenseite gerutschten Rucksack wieder zurück. Auf mein „Entschuldigung“ reagiert er mit sturem nach vorne Starren. Dass der Herr in den oberen Reihen von dem Kommilitonen ignoriert wurde, findet er ganz und gar nicht lustig. Er verschränkt die Arme vor der Brust. Aha! Brezelarme. Das wird gerne in der Grundschule benutzt und heißt soviel wie „Mund zu“. Und Achtung! Die Lippen werden schon ganz schmal. Die Professorin schreitet nun zum Glück ein, bevor der Lärmpegel noch weiter steigt. „Das geht jetzt alles zu weit weg vom eigentlichen Thema. Kommen wir nochmal zurück zu Hannah Ahrendt.“ Der Monolog-Herr verschränkt ebenfalls die Arme.
„Das musste ich jetzt einfach noch sagen“
Nach der Vorlesung hat der ein oder andere Student noch offene Fragen. Vor dem Pult der Dozentin warten jedoch schon zwei ältere Herren in cremefarbenem Trench Coat – das kann also dauern. „Das musste ich jetzt einfach noch sagen“, beendet der eine Mann seine kleine Rede. Die Dozentin lächelt müde. Da kommt auch schon die nächste Frage, besser gesagt Antwort. Wie gut, dass auch die Professorin zusätzliches Wissen aus der Vorlesung mitnehmen kann. Und die eine oder andere Dozentin darf sogar noch Lob erfahren: die GaststudentInnen ihrer Generation ähneln nämlich mehr und mehr ihrer äußeren Erscheinung. Ja, Idole findet man auch in Vorlesungen.
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