Kommentar zum Fall Yagmur: Nach Schema F

Foto: Frederic Zauels
Jugendhilfe

Der Hamburger Untersuchungsausschuss zum Tod der dreijährigen Yagmur hat seinen Bericht fertig: Es war Systemversagen, ein hartes Urteil über die Sozialbehörde blieb aus.

zuerst veröffentlicht bei Zeit Online 

Vor einem Jahr starb die kleine Yagmur aus Hamburg-Billstedt. Das Mädchen war von ihrer Mutter zu Tode geprügelt worden. Sie könnte noch leben, wenn die Behörden aufmerksamer, koordinierter gehandelt hätten. Wenn das Bewusstsein für ein Kindesleben nicht im dichten Geflecht der Zuständigkeiten verloren gegangen wäre.

Im Fall Yagmur haben fast alle Instanzen nach Vorschrift gehandelt und ihre Aufgaben erledigt. Aber mehr auch nicht. “Das war bürokratisches Vorgehen nach Schema F”, hieß es dazu am Donnerstag im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der seinen Abschlussbericht präsentierte. Seit März hatte sich das Gremium um Aufklärung bemüht, Pädagogen, Sozialarbeiter, Richter, Mediziner in zwanzig langen Sitzungen verhört.

Einblick in ein desolates System

Sicher ist eines: Die Frage, ob die Versäumnisse Einzelner zum Tode Yagmurs geführt haben oder das Jugendhilfesystem in Gänze versagt hat, ist hinfällig. Beides lässt sich nicht voneinander trennen. Ja, gravierende Fehler können allen Beteiligten vorgeworfen werden. Informationen wurden verschleppt, einfache Antworten akzeptiert und kritische Fragen nicht gestellt – aus Zeitmangel, aus Desinteresse, aus Furcht vor den Folgen einer Kompetenzüberschreitung. Also tat jeder so viel, wie er eben musste. Doch die Schuld allein den Jugendamtsmitarbeitern zuzuweisen, gegen die wegen Verletzungen der Fürsorgepflicht ermittelt wird, wäre allzu leicht.

Denn interne Berichte aus dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) gewähren Einblick in ein desolates System: Die Lage im Jugendamt beschrieb Abteilungsleiter Matthias Stein vom Hamburger Bezirk Eimsbüttel vor dem Ausschuss als “Super-GAU”. Wegen Personalmangels, schlechter Bezahlung und Überlastung sei das Amt “praktisch arbeitsunfähig”. Dazu komme ein Millionen Euro teures, kompliziertes Datenbanksystem, das die Arbeit erschwere. Die Folge: Ein Sozialarbeiter betreue bis zu 100 Fälle, die Bürokratie sei wichtiger als der Kontakt zu den Familien, sagte Stein. Für die schwierigen Fälle von Kindesgefährdung bleibe kaum noch Zeit.

Kindeswohl muss im Vordergrund stehen

Die Kritik ist nicht neu. Ein Lagebericht aus dem Jahr 2012 hatte gezeigt, dass “eine qualifizierte Einschätzung der Risikolagen” in den Hamburger Jugendämtern wegen Personalmangels nicht möglich ist. Die Leidtragenden sind die Kinder. Ob Jessica, Chantal oder Yagmur: Kinder sterben in Hamburg, quasi unter den Augen der Jugendämter. Doch geschehen ist seither wenig. Sozialsenator Scheele wusste um die Situation in den Jugendämtern, doch seine Behörde reagierte zu langsam. Ein für Ende 2013 angekündigtes Personalbemessungssystem etwa soll nun frühestens 2015 fertig werden.

32 Empfehlungen zur Verbesserung des Jugendschutzes hat der Untersuchungsausschuss zusammengetragen. Das Kindeswohl müsse im Vordergrund stehen, Eltern soll bei einer Gefährdung des Kindes leichter das Sorgerecht entzogen werden können, eine enge Zusammenarbeit zwischen Jugendamt, Kita, Polizei und Familiengerichten sei nötig. Keine innovativen Gedanken – Selbstverständlichkeiten, die zeigen, wie es um den Jugendschutz steht. Dass der Bericht keinen Zusammenhang zwischen der Personalsituation im Jugendamt und dem Tode Yagmurs feststellt, ist erstaunlich. Hier hat sich die SPD offenbar durchgesetzt und die Sozialbehörde vor einem harten Urteil verschont.

Eine Kultur des Hinschauens schaffen

Laut Polizeistatistik sterben in Deutschland jede Woche drei Kinder durch Gewalt oder Vernachlässigung. Dieser traurigen Realität muss sich eine Gesellschaft stellen und Antworten finden. In Hamburg funktioniert das noch nicht. Nun müssen politische Konsequenzen folgen. Die Frage, ob das Jugendhilfesystem in Hamburg anders strukturiert werden muss, wird sich bis in die nächste Legislaturperiode ziehen. Ein realistischerer Ansatzpunkt wäre eine Verbesserung der Situation in den Jugendämtern. Denn über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden, das ist ein schweres Unterfangen. Es gilt nun, gute Arbeitsbedingungen für Fachkräfte zu schaffen und eine Kultur des Hinschauens zu fördern, in der ein Mensch mehr gilt als Vorschriften und Paragraphen.

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5 Kommentare

  1. Gesi

    21. Dezember 2014 at 14:28

    Guter Kommentar. Nur nach Vorschrift gehandelt…. unheimlich. Und wer über nimmt jetzt die politische Verantwortung? Zumal es in Folge wieder den Bezirk Mitte betrifft, und der Tod von Chantal da wohl nichts verändert hat. Schreiber musste zurück getreten. Grote, der Nachfolger, wird es nicht tun, obwohl es die Opposition fordert, er hatte ja keine Ahnung, sagt er. ….

    • St.Paulianer

      21. Dezember 2014 at 22:59

      Richtig erkannt Gesi! Gut unterrichtete Kreise sprechen von einer stillen Vereinbarung zwischen Olaf und Schreiber:Du trittst zurück und ich unterstütze dich bei deiner Kandidatur zur Bürgerschaft! Was jetzt ja auch mit Hilfe einer Notiz auf einem Flyer geschah! Die Wählerinnen und Wähler werden das hoffentlich verhindern! Der Mann hat bewiesen, dass offenbar keinem Amt mit Verantwortung für Menschen gewachsen ist! Grote und zurücktreten? Eher zieht sich der Waffenlobbyist Johannes Kahrs von allen Ämtern zurück!

  2. Reinhart

    21. Dezember 2014 at 15:12

    Ein gut funktionierendes Pflegekinderwesen, zentral angesiedelt in der Fachbehörde, wurde 1996 in die Jugendämter der Bezirke ausgegliedert und dadurch zerschlagen, Finanzielle Mittel und Sozialarbeiterstellen wurden allgemeinen Sparzielen geopfert. Die Folgen sind bekannt. Beweis: Vor 1996 gab es keine toten Kinder. Schuld ist allein die Politik.
    Die dafür verantwortlichen Senatoren und Bürgermeister duken sich alle weg.

    • St.Paulianer

      26. Dezember 2014 at 03:19

      So einfach ist das nicht mein lieber Reinhart!!! Politik und Senator brauchen sich nicht wie Sie sagen, wegducken, schließlich können sie nicht alles selber machen, dafür oder dazu gibt es Untergebene. Schreiber und Grote hätten sich mehr kümmern müssen, wofür bekommen die bezahlt? Hamburg braucht frischen Wind, mit den eben Genannten herrscht nicht bloß Stillstand, es tritt Rückschritt ein!

  3. Einwohner

    1. März 2015 at 15:23

    Die Rechnung ist aufgegangen! Schreiber ließ sich „zurücktreten“ und bekam dafür die nötige Unterstützung für die Bürgerschaft!

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