„Mittendrin dabei“: St. Depri

Stadtgespräch
Daniela Chmelik

Freie Autorin | Studium der russischen und deutschen Literaturwissenschaften

Nachdem ein junger Mann aus der FC St. Pauli-Fanszene im August 2014 Selbstmord begann, gründete sich die Initiative „St. Depri – Wir sind immer für uns da!“

Gegenüber tobt der Sommerdom: Ansagen gröhlen fröhlich und Musik scheppert zum Auf und Ab der Fahrgeschäfte. Das Wetter ist spätsommerschön. Vor dem FC St. Pauli-Fanladen am Heiligengeistfeld 1 hingegen versammeln sich Menschen, die nicht sonderlich heiter sind. Das bunte Publikum umfasst Menschen, die sehr allein aussehen ebenso wie Menschen, die zusammen stehen, Junge und Alte, Männer und Frauen, Punker, Fußballfans, Depressive vieler Grade. Jeden dritten Donnerstag im Monat findet hier der St. Depri-Stammtisch statt. Der Hund eines St. Deprianers, Bolli (Name von der Redaktion geändert), kaut zufrieden am Rest eines Domwürstchens.

Depression neben dem Sommerdom

Während ein graugelockter Mann einen Sesselplatz ergattern kann und sich müde ausstreckt, steht eine kurzhaarige Frau draußen und erzählt vom Jolly Roger, von sich, Menschen, die sie verloren hat, und ihren Therapien. Bei St. Depri kommen Frauen und Männer mit langen, kurzen, hochstehenden und herabhängenden Haaren, Menschen, die Dauerkarteninhaber*innen sind oder waren, Menschen in Pauli-Trikots oder karierten Hemden zusammen. Viele von ihnen sind vielleicht trostlos, aber hier nicht allein. Menschen mit schwarzen Sternen auf Pullovern oder Armen, Menschen, die Menschen oder sich selbst verloren haben, diagnostizierte Depressive, Menschen, die bei sich eine Depression vermuten, Angehörige und Interessierte, Menschen mit Tränensäcken und Altersflecken, Menschen mit Ankern auf Shirts oder als Tatoos auf dem Arm und ohne Anker im Herzen.

Etwa 50 Besucherinnen und Besucher sind heute hier. Der Fanladen ist voll. Der St. Depri-Stammtisch beginnt wie immer mit einem Vortrag. Bisherige Themen waren Selbstwert, Burnout, Substanzmissbrauch, Therapiemöglichkeiten; heute geht es um Depression und Aggression. Der Referent Roland, braungebrannt, gehört zum ehrenamtlichen Team von St. Depri und ist hauptberuflich Verhaltenstherapeut. Vorweg erklärt er, dass man in der Pause auf gelbe Karten Fragen notieren könne, wenn man sich nicht traue, sie laut zu stellen.

„Antriebsmangel, Lustlosigkeit, Interessenlosigkeit, eine veränderte Stimmung, die oft auch Aggressionen gegen andere oder sich selbst mit sich bringt“, erläutert Roland, seien Symptome von Depression. Er spricht von einem im Ungleichgewicht festhängenden Nervensystem und dem aufreibenden Zustand, der eine Depression bedeutet; er erläutert die massiven sozialen Folgen, die eine Depression haben kann. Einsamkeit etwa.

Menschen mit Viva con Aqua oder Astra, ohne Anker

Das Publikum ist still. Man sitzt auf Sofas, Sesseln, an einem Tisch, der voller Antifa-Aufkleber ist und auf dem Bonbons und Salzstangen stehen oder auf aufgereihten Bierbänken. Zwischen Füßen liegt der Hund Bolli und schnarcht, schmatzt, grunzt und knurrt im Schlaf – vielleicht träumt er was. Alle anderen Gäste hören aufmerksam zu. Mal wird zu Aussagen bestätigend genickt, bei Scherzen des Referenten geschmunzelt, mal vergräbt jemand seinen Kopf in den Händen, jemand starrt ausdruckslos vor sich hin.

„Wenn der Akku eigentlich schon leer ist“, fährt Roland fort, „wenn man schon all seine Apps ausgeschaltet hat und die Helligkeit fast komplett runtergefahren, um sich gerade nur noch so aufrecht zu halten; wenn man überaus empfindlich gegen Kritik ist, wenn es dünnhäutiger schon gar nicht mehr geht, man wegen eigentlicher Kleinigkeiten sofort aus der Haut fahren könnte, aggressiv reagiert, um sich Raum zu schaffen. Autoaggressiv, um sich zu spüren, beziehungsweise überhaupt etwas zu spüren, nur diese Leere oder Schwere nicht…“ Jemand verschwindet auf Toilette.

Übrigens...
Bei St. Depri gibt es außerdem Unterstützung für Betroffene, die es nicht schaffen beispielsweise behördliche Post alleine zu öffnen. Depressive St. Pauli-Fans, die ihre Antriebslosigkeit an einem Stadionbesuch hindert, können den „Aufraffer“ in Anspruch nehmen. Zum Selbersporteln lädt St. Depri jeden Sonntag; denn Sport kann bekanntlich therapeutisch wirken.

Der Vortrag dauert eine halbe Stunde. In der anschließenden Pause kann man sich am Tresen Viva con Aqua-Wasser, Astra und Limo kaufen, sich mit Roland unterhalten oder mit Tanja, Maren oder Christian, die ebenfalls zum Team gehören und entweder als Therapeuten arbeiten oder selbst akut oder ehemals depressiv sind oder waren, sich auf jeden Fall gut mit diesem Krankheitsbild auskennen. „Denn Depression ist eine Krankheit“, sagen sie, „kein Kinkerlitzchen“, und: „Depressionen müssen behandelt werden!“

Der müde Mann verlässt seinen Sesselplatz in der Pause nicht. Jemand mit Jesus-Tätowierung auf der Wade erzählt, dass Lilo Wanders bei einem ARD-Quiz letztens 1700 Euro für St. Depri erspielt habe. Bolli und sein Herrchen drehen eine Runde, damit Bolli sein Bein gegen ein Werbeplakat für den Dom heben kann.

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Nach der Pause gibt es eine offene Runde. Roland moderiert. Es gibt ein paar Fragen in der großen Runde und Antworten aus dem Publikum, alles sehr einfühlsam und sanft. Die meisten Gäste hören einfach nur zu und sind dabei. Die Atmosphäre ist offen. Als keine Fragen mehr kommen, wird die Runde von Roland geschlossen. Nachdrücklich bietet er nochmals an, sich sofort direkt oder still per gelber Karte oder aber später von zu Hause aus online bei St. Depri zu melden, falls man ein psychologisches Erstgespräch benötige.

Bolli wedelt fröhlich mit dem Schwanz. Einige Menschen bleiben noch zigarettendrehend vor dem Fanladen stehen, unterhalten sich oder auch nicht, andere gehen schon nach Hause, zu Fuß, Fahrrad oder sich Richtung U-Bahn mit den Dombesuchern vermischend. Es ist erst 21.30 Uhr und schon dunkel, Spätsommer.
Liebe Depressive, kommt gut durch Herbst und Winter!

Daniela Chmelik stellt in ihrer Reihe Mittendrin Dabei! den Sommer über engagierte Projekte vor, die innovativ und nachhaltig sind, Menschen vom Rand in die Mitte holen und Hamburg und die Welt besser machen.

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Fotos: Daniela Chmelik
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