Wer kennt sie nicht? Die Diskussionen über Schulformen, das Turbo-Abi, das Zentral-Abi? Dem entgegengesetzt aber die Klagen der Eltern, dass zu viel Unterricht ausfalle.
Von Anne
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die schon im Kleinkindalter komplett greift. Die Devise heißt Frühenglisch, frühkindliche Bildung. Eine Stunde wöchentlich beim Englischunterricht, drei Mal am Tag ein und dieselbe Englisch-CD hören. Und das, wo viele Kinder nicht ihre eigene Muttersprache beherrschen. Selbst Gymnasiasten tun sich schwer mit (den) Dativ und Akkusativ, aber man legt Wert auf die zweite Fremdsprache. Warum auch nicht? Wir leben in einer sich globalisierenden, einer expandierenden Welt. Wer möchte, dass sein Kind im Dschungel des Lebens bestehen kann, geht diese Wege, lässt dabei gerne auch mal die Entwicklung des Kinder außer Acht, die durch Mutter Natur tief in unseren Genen verankert ist.
Nachhaltiges Lernen?
Weiter geht es in der Grundschule. Dort lernen die Kinder nicht mehr unbedingt etwas über ihre Heimatstadt, über die Umwelt, in der sie leben. An der Reihe ist das Sezieren von Fröschen, was – wie ich zugebe – eine ziemlich interessante Sache ist. Auch das Rechnen schwieriger Aufgaben gehört auf den Stundenplan. Und dann sind da natürlich noch der Schwimmunterricht am Montag, Klavierstunden am Dienstag, der Nachhilfelehrer, der immer Mittwoch ins Haus kommt, der Reitunterricht am Donnerstag und am letzten Tag der Woche Fußball oder Ballett. Spielen? Sich seiner Kindheit freuen? Zeit haben, etwas zu entdecken, sich für etwas zu interessieren, ohne dass die Schule dahinter steht, Druck ausübt und somit das Lernen erschwert? Nicht in diesem Kino, nicht in diesem Land. Dazu ist jedoch zu sagen, dass es Lehrer gibt, die sich ihrer Sache annehmen, die versuchen, sich an die Entwicklungsphasen Freuds und anderer Entwicklungspsychologen zu erinnern, diese bei der Planung des Unterrichts beachten. Doch die Bemühung dieser Lehrer ist nicht gewollt: weder von den Eltern, noch von der Politik. „Schnell!“ ist die Devise. Jetzt! Sofort! Es wird heute von „Bulimie-Lernen“ gesprochen. Schnell den Stoff in sich reinfressen und nach der Klausur wieder auskotzen. Nachhaltigkeit? Fehlanzeige.
Ist das Turbo-Abi durchzuhalten und was bringt es uns?
Im Endeffekt bringt uns das Turbo-Abi junge, unausgeglichene, teilweise auch pampige Menschen, die genervt von ihrer Umwelt, vor allem aber von Schule und Lernen sind. Schulabgänger, die zwar ein Abi in der Tasche, aber null Bock auf Uni haben. Warum? Weil sie immer nur „müssen“. Weil sie sich nicht in ihrem eigenen Tempo entwickeln dürfen. Nicht zuletzt, weil sie unabhängig von ihren Interessen mit Wissen vollgestopft werden, ohne eigene Erfahrungen machen zu dürfen. Ohne das Wissen im wahrsten Sinne des Wortes „zu begreifen“. Dafür fehlt schlichtweg die Zeit.
Dass Niedersachsen das achtjährige Abitur komplett und Baden-Württemberg das Turbo-Abi teilweise wieder abschafft, liegt natürlich nicht daran, dass es einen Fehler im Konzept gibt, der von den jeweiligen Bundesländern erkannt wurde; Nein, es liegt am Bundesland selbst, das nicht gewillt ist, sich dem Kurs der anderen anzupassen. Das zu schwach ist, dem Druck standzuhalten, das im Endeffekt dem Konkurrenzdruck davonläuft und die Globalisierung verpassen wird.
Fakt ist: ein komplettes Schuljahr wird auf 12 andere aufgeteilt, wobei die Grundschulzeit davon weitestgehend ausgenommen ist. Die Zeit am Gymnasium, vor allem aber die Studienstufe wird im Galopp absolviert. Zu dem ohnehin langen Unterrichtstag, der selten vor 17.00 Uhr endet, müssen noch Hausaufgaben gemacht, Präsentationen recherchiert und gestaltet sowie für Klausuren gelernt werden. Und Gruppenarbeiten werden gerne mal in die Ferien verlegt – da hat man ja nichts zu tun. Wer bitte nimmt sich im Urlaub Arbeit mit nach Hause? Da kommt es schon vor, dass man als Jugendlicher nach 16 Stunden Arbeit endlich die Zeit für Schlaf findet. Oder man wendet sich seiner Freizeit zu, schließlich sind da acht Stunden, die noch nicht verplant sind, Stunden, in denen nichts entstanden ist, nichts geschaffen wurde. Schlaf? Ruhe? Entspannung? Völlig überbewertet! So kommt es zustande, dass eine ganze Generation (bis auf wenige Ausnahmen) müde ist. Müde, kaputt und genervt. Und das, obwohl der viel zitierte „Ernst des Lebens“ noch nicht einmal angefangen hat.
Ist das Zentralabitur praktikabel?
„Ja“, sagt die Politik. „Jein“, ich als Betroffener. Die Möglichkeiten der Bundesländer und der Landkreise sind unterschiedlich. Dies liegt primär an der Bildungspolitik, die jedes Land für sich regelt. Gleichzeitig setzt das Zentral-Abitur, wie das Wort „zentral“ schon vermuten lässt, auf eine einheitliche Wissensabfrage der teilnehmenden Bundesländer. Jeder kocht seinen eigenen Bildungsbrei, aber das Zentralabitur ist einheitlich? Hallo?! Solange es x Schulbuchverlage mit Dutzenden von (teilweise fehlerhaften) Lehrbüchern und etlichen Zusatzmaterialien gibt, ist es – vielleicht nicht unbedingt unmöglich – auf jeden Fall aber schwierig.
Es gäbe da eine Möglichkeit, aber die darf man nicht aussprechen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf! Also, sowas wurde schon mal praktiziert … vor mehr als 25 Jahren … in der ehemaligen DDR. Von Rostock über Neubrandenburg, Schwerin, Magdeburg, Frankfurt/Oder, Dresden, Leipzig bis nach Chemnitz – überall die gleichen Schulbücher. Überall der gleiche Unterrichtsstoff. Wenn es hoch kam, mal zeitversetzt – aber sonst? Für jeden die gleichen Möglichkeiten. Und für alle am selben Tag zur selben Zeit die selbe Prüfung.
Hamburg sträubt sich vorerst gegen die Rückkehr zu G9. Wegen der vielen Reformen in den letzten Jahren, so die Begründung. Und außerdem gäbe es ja die Stadtteilschulen, die nach 9 Jahren zum Abitur führen. Ja, die gibt es. Und es gibt auch ein ABER, doch das würde zu weit führen.
Plädieren wir doch einfach dafür, das Bildungssystem bundesweit zu reformieren. Gestatten wir den Kindern, Kind sein zu dürfen ohne den Terminkalender des Managers eines börsendotierten Unternehmens. Lassen wir den Kindern die Zeit, eigene Erfahrungen machen zu dürfen, eigene Interessen zu entwickeln. Und: Überlassen wir die Kinder einfach mal dem Zustand der Langeweile. Eine wichtige Errungenschaft ist beispielsweise, sich aus Langeweile zu befreien, kreativ zu sein. Kinder – nein, eigentlich alle Menschen, lernen immer, in jeder Situation. Kinder lernen beim Spielen mit Gleichaltrigen einen Konflikt zu lösen, lernen Rücksicht zu nehmen und Einfühlungsvermögen zu beweisen. Doch das sind Dinge, die sich nicht messen lassen. Dennoch gehören sie zu den wichtigen sozialen Kompetenzen, die später im Berufsleben kurioserweise auch erwartet werden. Es gibt Dinge, die Kinder an keiner Uni lernen.
Übrigens: Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht. (Sprichwort aus Sambia) Denken wir mal gemeinsam darüber nach.
Foto: victor-von-scheffel wikimedia
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