„Mittendrin dabei“: Konfetti im Kopf

Fotos: Michael Hagedorn
Stadtgespräch
Daniela Chmelik

Freie Autorin | Studium der russischen und deutschen Literaturwissenschaften

„Konfetti im Kopf“ engagiert sich für gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Demenz und will der Öffentlichkeit neue Perspektiven für das Thema vermitteln: lebensbejahend, bunt und mit viel Freude bei Kaffeeklatsch und Schwof.

Heute sind die Beatles angesagt im Konfetti-Café. Ein Entertainer mit Gitarre, Gesang und dem kompletten Repertoire von „All You Need Is Love“ bis hin zu „Yellow Submarine“ ist zugegen. Es gibt Tanz und Applaus und auch Kaffee, Kuchen und Kunst. „Hier ist immer was los“, freut sich der gebürtige Hamburger Walter Hagen. Der 81-Jährige hat früher als Schiffsreiniger im Hafen gearbeitet und lebt nun im Pflegeheim.

Seine Begleitung Anneliese Saul ist schon älter als 90 Jahre, aber eine Dame fragt man nicht nach dem Alter. Bereitwillig und mehrfach erzählt sie, dass sie direkt über dem Star-Club aufgewachsen sei, dem Club auf St. Pauli, in dem die Beatles berühmt wurden. Wie Walter ist auch Anneliese fast jeden Dienstag im Konfetti-Café. Beide gestehen, dass sie heute die Musik hierherführe. Walter sagt: „Ich bin ja auch mit den Beatles aufgewachsen.“ Er denkt nach und ergänzt: „Früher gab es übrigens noch allerorten so tolle Musikboxen in den Kneipen.“

„All My Loving“, Händeklatschen, Kaffee und Klönschnacken

Es wird getanzt, geklatscht und gelacht im Konfetti-Café. Der Entertainer spielt „Here Comes the Sun“, und am Nebentisch behauptet jemand: „Musik ist auch aus Wind gemacht.“ Im Konfetti-Café ist es herzlich egal, ob man im Joggingsanzug oder aufgebretzelt erscheint, die Perücke verrutscht ist oder das Gebiss mal wieder vermisst wird. „Come As You Are“ könnte das Motto sein. Aber das wäre ja Nirvana.

Schon die Falten in den Gesichtern alter Menschen erzählen Geschichten. Im Konfetti-Café braucht man als Besucher nur ein wenig Offenheit, um mit Menschen in Kontakt zu kommen, die viel erlebt haben, mit älteren Menschen, die sich gut erinnern und auch mit Menschen, bei denen das Gedächtnis zerfällt. Nur „Trauerklöße gibts hier nicht“, sagt Walter Hagen und lacht.

Seit 2014 gibt es das Konfetti-Café auf St. Pauli. Einmal wöchentlich findet ein buntes kulturelles Programm statt, an dem sowohl Jung als auch Alt seine Freude hat. Das Thema Demenz steht nicht im Vordergrund. Das Café ist zwar ein fachlich betreuter, demenzsensibler Raum, aber seine künstlerisch-musikalische Angebote sind für alle. Vor allem sollen Menschen mit Demenz die Möglichkeit haben, mittendrin zu sein.

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Einen unbefangenen Umgang mit Demenz erreichen

Der Initiator von „Konfetti im Kopf“, Michael Hagedorn, ist Fotograf. Seine Idee zu der Demenzkampagne kam ihm im Rahmen eines Fotoprojekts, bei dem er einen dementen Mann fotografisch begleitete. Diesem Mann fiel im Karneval Konfetti auf den Kopf und er bemerkte auf, dass es in seinem Kopf ebenso konfettihaft aussehe. Fortan ist es Hagedorns Idee, der klischeebehafteten Vorstellung von Demenz mit neuen, lebensnahen Fotografien zu begegnen, die Lebensfreude und Würde von Menschen mit Demenz abbilden. 1,6 Millionen Menschen mit Demenz leben in Deutschland. Hagedorns Initiative will weg vom reinen Trauer-Image dieser Krankheit, will über Demenz aufklären und einen unbefangenen Umgang erreichen.

In Großkampagnen 2009 in Berlin, 2011 in Stuttgart und 2013 in Hamburg rückten Michael Hagedorn und sein Team mit kreativen und informativen Aktionen das Thema Demenz ins Gespräch. Mittelpunkt war jeweils Hagedorn farbenfrohe Ausstellung mit Fotos dementer Menschen. Auf den Bildern wird gelacht, nachdenklich, verwirrt und fröhlich geschaut. „Demenz berührt mit vielen Gesichtern“ ist der Slogan. Ziel sei es, hinter dem Schreckgespenst der Diagnose Demenz die Menschen zu entdecken. „Ich will mit meinen Bildern zeigen, dass Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen in die Mitte der Gesellschaft gehören, dass ein Leben trotz oder manchmal gerade wegen Demenz sehr lebenswert sein kann und dass das Alter überhaupt von unvergleichlicher Schönheit ist“, sagt Hagedorn.

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Übrigens...
Das Konfetti-Café findet jeden Dienstag von 14 bis 18 Uhr in der Bernstorffstraße 145 (St. Pauli) statt. Große, kleine, alte, junge Menschen, ausdrücklich alle sind herzlich willkommen!

Demente Menschen aus dem Abseits in unsere Mitte holen

In Zukunft, so Hagedorn, wolle er weitere Kampagnen anschieben, auch in kleineren Städten und sich geografisch ausweiten, verstärkt generationsübergreifend arbeiten. Die Cafés (außer auf St. Pauli gibt es in Hamburg noch eins in Lohbrügge) sollen verstetigt und deren Programm immer aufs Neue mit Musik, Lachen und Klatschen, Theater, Kunst und Literatur, gefüllt werden. Dazu wird guter Kuchen und Kaffee serviert. So will er Menschen mit Demenz aus dem gesellschaftlichen Abseits in unsere Mitte holen.

Im Konfetti-Café ist die Stimmung bei „Twist and Shout“ auf dem Höhepunkt. Am Nebentisch ruft jemand laut: „Ich habe noch Flausen in der Melodie.“ Viele Besucher schwingen nun nach dem Motto „Wer tanzt, humpelt nicht“ die Tanzbeine oder Rollstühle. Voller Schwung sagt Anneliese Saul zum Abschied: „Für mich war das jung heute. Das war wirklich sehr schön. Da lebt man richtig auf.“ Ausgelassen und fröhlich brechen mehr oder weniger demente, jüngere und ältere Menschen auf, zum Abendbrot im Altersheim oder nach Hause. Walter Hagen seufzt zum Abschied beseelt: „Musik gehört auch zum Leben.“

Daniela Chmelik stellt in ihrer Reihe „Mittendrin dabei“ den Sommer über engagierte Projekte vor, die innovativ und nachhaltig sind, Menschen vom Rand in die Mitte holen und Hamburg und die Welt besser machen. Die Lieder der Beatles konnte sie mitsingen, auch wenn sie nicht über dem Star Club aufgewachsen ist.

Mehr zum Thema: Mittendrin dabei: Die Medienboten – Besuch mit Buch

„Mittendrin dabei“: Die Damen von der Kleiderei

Fotos: Michael Hagedorn
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