Im Januar 2014 hat die Polizei St. Pauli und die Sternschanze über Nacht zum Gefahrengebiet erklärt. Neun Tage lang bestimmten Kontrollen und Proteste hier den Alltag. Das Hamburgische Oberverwaltungsgericht hat am Mittwoch geurteilt, dass die Einrichtung von Gefahrengebieten verfassungswidrig ist. In der fast zehnjährigen Historie der Hamburger Gefahrengebiete hat die Polizei mehr als 40 solcher Sonderzonen ausgerufen.
„In den vergangenen Wochen wurden wiederholt Polizeibeamte und polizeiliche Einrichtungen angegriffen. […] Dabei sind Polizeibeamte zum Teil erheblich verletzt worden. […] Vor diesem Hintergrund richtet die Hamburger Polizei zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten ab dem 04.01.2014, 06:00 Uhr, ein Gefahrengebiet ein“, begründet die Hamburger Polizei die Einrichtung eines unbefristeten Gefahrengebiets in der Sternschanze und auf St. Pauli. Durch diese Maßnahme könnten „relevante Personengruppen“ sowie ihre mitgeführten Gegenstände überprüft werden und „aus der Anonymität“ geholt werden. Die beabsichtigten Kontrollen sollen dabei „gewohnt mit Augenmaß“ durchgeführt und die BesucherInnen des Vergnügungsviertels sowie die AnwohnerInnen nicht übermäßig belastet werden. Weiter heißt es in der Mitteilung: „Gleichwohl wollen wir durch diese Maßnahme sehr deutlich machen, dass die Polizei Hamburg alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen wird, um Leib und Leben ihrer Beamten zu schützen.“
Tatsächlich ist die Einrichtung eines solchen Gefahrengebietes in Hamburg kein ungewöhnliches Vorgehen. Seit 2005 hat die Polizei mehr als 40 Gefahrengebiete im Stadtgebiet ausgerufen. Die meisten nur für kurze Zeiträume, beispielweise im Rahmen von Fußballspielen. Einige andere jedoch längerfristig oder sogar dauerhaft, darunter das Schanzenviertel und die Reeperbahn. Eine Übersicht über alte und bestehende Gefahrengebiete gibt es hier.
Gefahrengebiete – die Gesetzesgrundlage
Das vor neun Jahren vom CDU-Senat verabschiedete „Gesetz zur Erhöhung der Sicherheit und Ordnung“ ermöglicht der Hamburger Polizei zur Prävention von Straftaten sogenannte Gefahrengebiete auszurufen. Für die Einrichtung einer solchen Zone sind keine Nachweise erhöhter Kriminalität notwendig. Die Polizei kann die Gebiete aufgrund ihrer „Lageerkenntnisse“ selbst festlegen und in dem definierten Bereich verdachtsunabhängige Kontrollen durchführen. So heißt es im entsprechenden Paragrafen des Hamburger Polizeigesetzes: „Die Polizei darf im öffentlichen Raum in einem bestimmten Gebiet Personen kurzfristig anhalten, befragen, ihre Identität feststellen und mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen, soweit auf Grund von konkreten Lageerkenntnissen anzunehmen ist, dass in diesem Gebiet Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen werden und die Maßnahme zur Verhütung der Straftaten erforderlich ist.“ (§ 4 Abs. 2 PolDVG). Des Weiteren können die kontrollierten Personen Platzverweise erhalten oder sogar in Gewahrsam genommen werden.
Kontrollen „mit Augenmaß“
Für die Einrichtung von Gefahrengebieten führt die Hamburger Polizei unterschiedliche Begründungen an. Während für St. Pauli, St. Georg oder die Sternschanze beispielsweise „Drogenkriminalität“ als Grund für die Maßnahme angegeben wurden, war „Jugend- und Gewaltkriminalität“ die Grundlage für das Gefahrengebiet „Bergedorf – Neuallermöhe“. Auch im Rahmen von Fußballspielen werden rund im das Millerntorstadion oder die Arena im Volkspark oftmals kurzfristige Gefahrengebiete eingerichtet. Darüber hinaus hat die Polizei bei Demonstrationen mit der Einschätzung „Versammlung mit einem prognostisch gewaltsamen Verlauf“ zeitweise – wie auch am 21. Dezember 2013 – die gesamte Innenstadt als Gefahrengebiet definiert.
Die in einem Gefahrengebiet durchgeführten Personenkontrollen können von der Polizei ohne Verdachtsmomente durchgeführt werden. Dafür legt die Polizei „lageabhängige Zielgruppen“ fest. Kleine Anfragen der Fraktion der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft haben ergeben, dass die entsprechenden Zielgruppen in Gefahrengebieten beispielsweise definiert werden als „Personen, die sich in den Grenzen des Gefahrengebiets aufhalten und vom äußeren Erscheinungsbild und/oder ihrem Verhalten der Drogenszene zugeordnet werden können“, „16-25-Jährige in Gruppen ab drei Personen oder Personen, die alkoholisiert sind und/oder sich auffällig verhalten“, „Einzelpersonen, die nach polizeilicher Erfahrung der gewaltbereiten Fußballszene zuzurechnen sind oder 16-35-Jährige in Gruppen ab drei Personen“ oder auch „Personen, die augenscheinlich dem linken Spektrum zuzurechnen sind“.
Keine „Erfolgskontrolle“ der Präventivmaßnahmen
Über den „Erfolg“ der Einrichtung von Gefahrengebieten zur Bekämpfung und Prävention von Kriminalität muss die Polizei keine Rechenschaft ablegen. Im Rahmen der Kampagne „Grundrechte verwirklichen! Gefahrengebiete aufheben!“ hat die Fraktion der Linken in der Bürgerschaft mittels zahlreicher Kleiner und Großer Anfragen die geografische Lage der Gefahrengebiete ermittelt sowie die Zahl der Personenkontrollen, Platzverweise, Ingewahrsamnahmen und Strafverfahren erfragt. So wurden beispielsweise Gefahrengebiet „Bergedorf – Neuallermöhe – Nettelnburg“, das von 2006 bis 2009 bestand und mit „Jugend- und Gewaltkriminalität“ begründet wurde, 7.889 Personen verdachtsunabhängig kontrolliert, 2,188 Personen wurden Platzverweise erteilt und 5.312 Strafanzeigen gestellt. Der Verurteilung zu zwei Freiheitsstrafen, drei Jugend- und sieben Geldstrafen sowie drei gerichtlichen Erziehungsmaßregelungen im Jahr 2008 stehen sieben Freisprüche und erledigte Verfahren sowie 67 Einstellungen gegenüber.
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Mark
4. Januar 2014 at 21:38
Ich darf mir erlauben, in diesem Zusammenhang auf dem Wikipedia-Artikel „Grundrechte“ (siehe auch „Einschränkbarkeit) zu zitieren:
„Nur die Menschenwürde ist nach herrschender Ansicht als Höchstwert der Verfassung gänzlich „unantastbar“ und damit das einzig schrankenlose Grundrecht des Grundgesetzes.“
http://de.wikipedia.org/wiki/Grundrechte_(Deutschland)#Einschr.C3.A4nkbarkeit
JHWH
5. Januar 2014 at 01:59
Interessant auch dieser Link:
„(…) Während eine Durchsuchung nach allgemeinem Polizeirecht eine konkrete Gefahr voraussetzt, ermöglicht § 4 Abs. 2 PolDVG HA eine verdachtsunabhängige Inaugenscheinnahme von Sachen. Diese Inaugenscheinnahme darf deshalb nicht in gleicher Weise wie die Durchsuchung in die Privatsphäre des Betroffenen eingreifen, sondern muss sich auf eine Betrachtung der mitgeführten Sachen beschränken. Ein Abtasten oder der Einsatz von Detektoren oder Spürhunden ist davon nicht umfasst.
Für ein Aufenthaltsverbot nach § 12b Abs. 2 SOG müssen (…) konkrete Tatsachen die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Straftatbegehung rechtfertigen. Die Zugehörigkeit zum linken Spektrum, die Eintragung in einer polizeilichen Datenbank als “Straftäterin links motiviert” oder ein allgemein verbal aggressives Verhalten reichen dafür nicht aus. (…) VG Hamburg, Urt. v. 2.10.2012, 5 K 1236/11“
http://www.jura.uni-hamburg.de/hrn/2013/03/13/vg-hamburg-verdachtsunabhangige-identitatskontrolle-und-durchsuchung-in-sog-gefahrengebieten-aufenthaltsverbot-und-ingewahrsamnahme/
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