“Die Arbeitsbedingungen ‘schwierig’ zu nennen, wäre eine Untertreibung”: Die Worte von Matthias Stein sind deutlich. Der Leiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) in Eimsbüttel sprach am Montagabend vor dem Untersuchungsausschuss zum Tod der dreijährigen Yagmur aus Billstedt. In seiner Zeugenaussage zeichnete der Sozialpädagoge ein düsteres Bild von der Arbeitsrealität in den Jugendämtern.
Veröffentlicht am 4. Juni 2014
Seit dem 6. März bemüht sich der Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) um Aufklärung – warum musste die kleine Yagmur sterben? Das dreijährige Mädchen war am 18. Dezember den Folgen eines Leberrisses erlegen, nun ist die eigene Mutter wegen Mordes angeklagt. Trotz diverser Warnsignale, die auf Gewalt in der Familie hindeuteten, beließ das Jugendamt das Mädchen in der Obhut seiner Eltern. Nachdem in den vergangenen Sitzungen des Untersuchungsausschusses bereits Rechtsmediziner, eine Familienministerin, eine Kinderärztin, sowie die mit dem Fall befassten Jugendamt-MitarbeiterInnen befragt worden waren, sprach nun erstmals eine Führungskraft des Allgemeinen Sozialen Dienstes: Besonnen und ruhig trug Matthias Stein am Montag seine Sicht der Dinge vor – und erhob dabei schwerwiegende Vorwürfe gegen die Sozialbehörde und das Jugendhilfesystem in Hamburg.
“Ich dramatisiere nicht, wenn ich von katastrophalen Zuständen in unserer Abteilung spreche”, sagte der Sozialpädagoge gleich zu Beginn der Anhörung. Die individuelle Belastung der MitarbeiterInnen sei zu hoch – jede Fachkraft beschäftige sich derzeit mit 80 bis 110 Fällen. Da immer wieder akute Notfälle, etwa zahlreiche Meldungen von Kindeswohlgefährdung bei dem Amt eingehen würden, sei es nahezu unmöglich, alle Fälle stets angemessen zu betreuen. Darunter leide die Beziehungsarbeit mit den Familien und Kindern – der persönliche Kontakt komme in der alltäglichen Arbeit des Allgemeinen Sozialen Dienstes zu kurz, so Stein. Als unmittelbare Folge der hohen Arbeitsbelastung deutete der Jugendamts-Leiter eine hohe Fluktuation an MitarbeiterInnen: 15 von 17 Fachkräfte hätten in den vergangenen drei Jahren bereits ihre Stelle aufgegeben. “Gerade junge Mitarbeiter fühlen sich in diesem System oft machtlos und resignieren – sie haben den Eindruck, dass sie doch nichts bewirken können”, gab Stein zu Protokoll. Die schwierigen Arbeitsbedingungen in der Sozialarbeit seien auch seinen Vorgesetzten bekannt: Matthias Stein gab an, bereits das Gespräch mit Sozialsenator Detlef Steele und Staatsrat Jan Pörksen (beide SPD) gesucht zu haben – jedoch ohne Erfolg: “Die Kritik wird zur Kenntnis genommen, geändert hat sich bisher nichts. Im Gegenteil: Die Situation hat sich dramatisch verschlechtert”, sagte Stein.
Radikaler Kurswechsel nötig
Ein echter “Super-GAU” sei die Umstellung der behördeninternen Datenerfassung auf das Computerprogramm “Jus-IT”. Die Bedienung des über 100 Millionen Euro teuren Programms sei kompliziert, aufwändig und verlängere die Bearbeitungszeit der Fälle unnötig. Am Beispiel der neuen Software zeige sich, dass die Arbeitsrealität im ASD oft nicht mit neuen Konzepten und Strategien zu vereinbaren sei, die “von oben durchgesetzt“ würden, so Stein. In den vergangenen Jahren seien immer wieder neue Projekte von der Sozialbehörde angeordnet worden, an denen die ASD-Fachkräfte mitarbeiten sollten – das Engagement für jene Projekte raube den Fachkräften jedoch Zeit, die schließlich für die reguläre Fallbearbeitung fehle, so Matthias Stein. „Was wir brauchen, ist ein radikaler Kurswechsel“, erklärte der Sozialpädagoge vor dem Ausschuss. „Bevor neue Projekte realisiert werden, muss das Personal in den Abteilungen aufgestockt werden.“ Eine engere Zusammenarbeit zwischen dem Kinderkompetenzzentrum des UKE und den Jugendämtern hält der ASD-Mitarbeiter grundsätzlich für sinnvoll. In Zukunft soll verbindlich festgelegt werden, wann ein Kind bei den Fachärzten vorgestellt werden muss – eine erste praktische Konsequenz aus den Erfahrungen im Fall Yagmur. Wichtig sei jedoch, dabei auch den MitarbeiterInnen in den Jugendämtern entsprechende Ressourcen zur Verfügung zu stellen: „Oft fehlt es uns bereits an einem Transportmittel, um schnell ein Kind aufsuchen und es zur Rechtsmedizin bringen zu können“, sagte Stein. Auch die Kinderschutz-Koordinatoren in den Bezirken und die Jugendhilfe-Inspektoren der Sozialbehörde verschonte Matthias Stein nicht mit seiner Kritik: Bisher sei die Zusammenarbeit mit diesen Instanzen „wenig gewinnbringend“ gewesen, so der Pädagoge.
Wie es konkret zum Tode Yagmurs kam, konnte am Montagabend nicht geklärt werden: Mit einem Verweis auf den Sozialdatenschutz weigerte sich Matthias Stein, öffentlich zu dem Fall auszusagen. Sein Kollege Martin Knieschewski verweigerte seine Zeugenaussage vollständig – da der ASD-Leiter direkt in den Fall eingebunden und an konkreten Entscheidungen beteiligt gewesen sei, bestehe die Gefahr, sich selbst zu belasten. Dies teilte sein Anwalt vor dem Ausschuss mit.
Opposition fordert Konsequenzen
Die Mitglieder des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zeigten sich angesichts der drastischen Schilderungen von Matthias Stein bestürzt. Mehmet Yildiz, Obmann der Fraktion Die Linke, schien beeindruckt von der deutlichen Aussage des Sozialpädagogen: „MitarbeiterInnen, die sich bis zur Erschöpfung für das Wohl der Kinder einsetzen, ein Computerprogramm als Arbeitsinstrument, dass Millionen kostet, aber in der Praxis völlig untauglich ist, immer neue kopflose Vorgaben der Sozialbehörde, die die Arbeit mehr verschlechtern als verbessern – und statt Unterstützung Standardabsenkungen als Antwort auf Arbeitsüberlastung. Kein Wunder, dass viele ASD-MitarbeiterInnen das Weite suchen. Wir hoffen, dass dem Abteilungsleiter aus seinem ehrlichen Auftritt keine Nachteile entstehen.“ Yildiz wirft dem Senat vor, die Arbeit im ASD in den letzten Jahren „regelrecht kaputt saniert“ zu haben: „Der Senat muss endlich zur Kenntnis nehmen, dass ganze Abteilungen kollabiert sind und der Kinderschutz in Hamburg nicht mehr gewährleistet ist.“ Die Grünen fordern vom Senat, die Arbeitsbedingungen in den Jugendämtern schnell zu verbessern. PUA-Mitglied Antje Möller dazu: „Die einzelnen Maßnahmen zum Kinderschutz, die in den vergangenen Jahren ergriffen wurden, bilden kein stimmiges Konzept. Für diese drängenden Probleme brauchen wir umfassende Lösungen. Das bestätigt uns darin, dass die Probleme in den Jugendämtern ein Schwerpunkt in der weiteren Arbeit des Untersuchungsausschusses sein müssen.“
Foto: Jonas Walzberg (Archiv)
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