Wilhelmsburg: Was bleibt nach dem IBA-Hype?

Politik

2013 endete die Internationale Bauausstellung in Wilhelmsburg. Mit rund 70 Projekten sollte die Elbinsel aufgewertet werden, Bauherren und Stadt haben etwa eine Milliarde Euro südlich der Elbe investiert. Gentrifizierungsgegner kritisierten die „Stadtplanung vom Reißbrett“, städtisch Behörden erhofften sich einen Aufschwung in dem sozial schwachen Stadtteil. Heute ist der Alltag in Wilhelmsburg zurückgekehrt. Defizite bestehen weiterhin: Im Mittendrin-Interview kritisiert Lutz Cassel, Vorsitzender des Stadtteilbeirats, den Leerstand kreativer Flächen und warnt vor einem Scheitern der Bildungsoffensive.

Mittendrin: Die IBA versprach den Aufschwung, in Lokalmedien nach Ende der Bauausstellung war später hingegen von einer „Katerstimmung“ in Wilhelmsburg die Rede. Wo steht der Stadtteil heute?

Lutz Cassel: Beides trifft auf gewisse Weise zu – nach dem IBA-Hype kamen zwar einige Geschäftsleute ins Viertel, die das große Geschäft witterten. Doch die meisten sind inzwischen wieder abgezogen. Die alarmierenden Medienberichte über den Ladenleerstand in Wilhelmsburg waren allerdings übertrieben. Im Gegenteil, es gibt viele Beispiele für erfolgreiches Gewerbe: Etwa die Kneipe „turtur“, das Restaurant „Flutlicht“ oder den Fahrradladen „Vélo 54“ – allesamt Betriebe, die von Wilhelmsburgern auf die Beine gestellt wurden.

Auch wenn kein „Szenestadtteil“ entstanden ist: Hier schlummern viele Ideen und großes kreatives Potenzial, wie schon die Pläne rund um den Kulturkanal zeigen. Im Gewerbehof am Veringhof, der von der Sprinkenhof AG verwaltet wird, stehen immer noch Räume leer – nicht etwa, weil der Bedarf nicht da wäre, sondern weil die Mieten mit 8 bis 10 Euro pro Quadratmeter zu teuer sind. Hier würde es Sinn machen, gestaffelte Mieten zu verlangen, die aufgabengerecht an das jeweilige Einkommen der Mieter angeglichen werden. Schließlich trägt die Sprinkenhof-AG als städtische Gesellschaft eine soziale Verantwortung, dort könnten etwa Begegnungsstätten für Flüchtlinge entstehen.

Viele Wilhelmsburger sahen die IBA kritisch und warnten vor einer möglichen Gentrifizierung. Die Stadtplaner widerum betonten stets ihr Ziel „Aufwertung ohne Verdrängung“. Hat das aus ihrer Sicht funktioniert?

Cassel: Bisher ja – nach den energetischen Sanierungen der Wohnungen im Weltquartier etwa konnten alle alten Bewohner wieder in ihre Häuser einziehen. Die Steigerungen der Warmmieten waren dort minimal, weil die die Heizkosten deutlich gesunken sind – das sind schöne Ergebnisse. Heute haben wir immer noch einen moderaten Mietspiegel in Wilhelmsburg, der unter dem hamburgweiten Durchschnitt liegt.

Haben IBA und igs positive Impulse in Wilhelmsburg gesetzt?

Cassel: Ja durchaus, etwa im Bereich der Energieversorgung – Wilhelmsburg ist auf gutem Weg, ein energietechnisch autarker Stadtteil zu werden, Energieberg und Energiebunker versorgen heute schon viele Haushalte mit erneuerbarem Strom. Auch der Inselpark mit seinem Sport- und Freizeitangebot ist ein Riesengewinn für die Insel, so eine Sportparkanlage gab es bisher nicht. Heute haben wir eine kleine Schwimmhalle und eine eigene Basketballmanschaft, die junge Flüchtlinge in die eigene Sporthalle einlädt – ohne diese Neubauten im Zuge der igs wäre das nicht möglich gewesen.

Wilhelmsburger_Inselpark_4

Eine Errungenschaft ist auch die Bildungsoffensive. Neue Projekte wie die Tor zur Welt-Schule wurden wunderbar angenommen und wirken langfristig im Stadtteil: Besserverdienende Familien schicken ihre Kinder nun nicht mehr ins nördliche Hamburg, sondern in Wilhelmsburg zur Schule. Damit werden die verschiedenen kulturellen Gruppen durchmischt und Wilhelmsburg verliert mehr und mehr sein früheres Image als „Bronx Hamburgs“.

Nun wurde allerdings bekannt, dass die Stadt offenbar Stellen im Bildungsbereich einspart. Das „Forum Bildung Wilhelmsburg“, einer der ältesten Bildungsvereine im Stadtteil, ist bald mit weniger als einer halben Stelle besetzt.

Cassel: Tatsächlich ist der Senat gerade dabei, den Gewinn aus der Bildungsoffensive zu verspielen, indem er mit rigiden Sparmaßnahmen im Personalbereich die
Weiterführung der Aktionen um die Bildungsoffensive behindert , womöglich lahmlegt. Dabei brauchen wir gerade jetzt mehr Personal im Bildungsbereich, um insbesondere dem Bildungs- uns Ausbildungsbedarf der jungen und heranwachsenden Flüchtlinge gerecht zu werden.

In welchen Bereichen sehen sie außerdem Defizite?

Cassel: Kritisch sehen wir nach wie vor die Verkehrsplanung: Die Dratelnstraße zu einer vierspurigen Hauptverkehrsstraße mit Schwerlastenverkehr auszubauen, im Zusammenhang mit der Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße und der geplanten sehr LKW-gerechten Ausfahrt Rotenhäuser Straße – das stößt auf Widerstand. Die Stadtentwicklungsbehörde und die Verkehrsbehörde verfallen hier in alte Muster, das ist sehr ärgerlich. Die Öffnung des Spreehafens und der neue Fahrrad-Rundweg rund um die Insel war wichtig für die Menschen in Wilhelmsburg und auf der Veddel – leider hat sich die Hafenbehörde dann gegen eine Freizeitnutzung des Hafens gestellt. Außerdem gibt es heute noch nicht genügend barrierefreie Zugänge um den Deich. Ungelöst ist auch das Müllproblem im Stadtteil – einige Bewohner entladen ihren Müll einfach in der Öffentlichkeit, die Stadt muss hier aktiv werden.

Sie sprachen eben die Hamburg Port Authority an. Welche Rolle spielt die Hafenbehörde für die weitere Entwicklung des Stadtteils?

Cassel: Weil der Hafenbehörde die Flächen am Hafen gehören, kann sie Einfluss auf Bauvorhaben nehmen, dadurch behindert sie die Weiterentwicklung des Stadtteils. Ein Beispiel: Die Westseite des Kulturkanals ist als Industriegebiet ausgewiesen und gehört zum Hafen, eine kulturelle Nutzung etwa im Sinne der Idee eines Kulturkanals ist dort also nicht möglich. Wilhelmsburg ist außerdem immer noch umgeben von großen Containergebirgen am Hafenrand, was viele Bewohner als störend empfinden. Andererseits wird die Kattwyk-Insel großflächig als Umschlagplatz für Autos, die verschifft werden sollen, genutzt. Diese Wagen könnte man etwa in einem dreistöckigen Hochhaus stapeln und die Insel damit zur Hälfte freimachen – dafür setzt sich der Stadtteilbeirat bereits seit vier Jahren ein, erst jetzt scheint diese Idee in der Politik angekommen zu sein.

Die Wilhelmsburger gelten heute als sehr engagiert und kritisch – hat die IBA mit ihren Projekten die Bürgerbeteiligung letztlich gestärkt?

Cassel: In der Tendenz ist der Dialog zwischen Stadt und Bürgern heute stärker wahrnehmbar– weil sich die Bürger ihr Mitspracherecht erkämpft haben. Die Beteiligungsformate von IBA und igs glichen eher „Akzeptanzbeschaffungsmaßnahmen“, die mit echter Partizipation nur wenig zu tun hatten. Die Debatten rund um IBA und igs hatten allerdings einen identitätsstiftenden Effekt, der Zusammenhalt und das Engagement im Stadtteil ist gewachsen.

Die Elbinsel mag nach Ende der IBA aus dem Fokus der Stadtentwicklung gerückt sein, dennoch sind nicht alle Probleme gelöst. Mit welchen Aufgaben und Herausforderungen sieht sich der Stadtteil heute konfrontiert?

Cassel: Aus stadtplanerischer Sicht müssten die verschiedenen Viertel besser miteinander verbunden werden – zwischen Alt-Kirchdorf, der Tor zur Welt-Schule und dem Korallusviertel etwa prallen immer noch Welten aufeinander. Das Korallus- und Bahnhofsviertel etwa sollte zu einem Sanierungsgebiet erklärt werden, denn mit Fördergeldern der EU könnten dieses ehemalige Arbeiterviertel instandgesetzt und an die Umgebung angepasst werden.

Außerdem brauchen wir zwei bis drei Moscheen. Die zum Teil noch vorhandenen „Hinterhofmoscheen“ werden der kulturellen, religiösen Vielfalt im Stadtteil nicht gerecht. Darüber wird bereits mit der Stadt verhandelt und nach Flächen gesucht. Da es hier verschiedene muslimische Gemeinden gibt, würde eine einzelne ursprünglich angedachte große Moschee wohl nicht viel Sinn machen. Und schließlich wäre da noch die Versorgung der Flüchtlinge, die in den neuen Unterkünften auf der Insel leben. Erfreulicherweise ist das Engagement im Stadtteil für die Geflüchteten aber sehr groß, hier zeigt sich die Willkommenskultur im Stadtteil.

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Kommentare anzeigen (1)

1 Kommentar

  1. Jürgen

    21. Oktober 2015 at 19:47

    Danke für dieses Interview, zu dem ich allerdings etwas ergänzen möchte: Herr Cassel verneint eine Gentrifizierung und begründet dies damit, dass der Mietendurchschnitt hier auf der Insel (noch) unter dem Hamburger Schnitt liege. Das mag sein, jedoch sollte erwähnt sein, dass die Mieten in den letzten Jahren massiv gestiegen sind – und so gab und gibt es Verdrängung von Menschen, die sich diese Mieten nicht mehr leisten können, wobei auch Behörden wie die Arge ihren Part in dieser Sache spielen. Der Bauverein Reiherstieg z.B. hat vor einigen Jahren seine Mieten schlagartig um 20 % angehoben, anderswo zahlt man 9,80 € für einen Quadratmeter unsanierten Altbau wo es früher 5,80 € waren.
    Weiterhin sei der Einfluss der Industrie aka HPA auch in Hinblick auf Emissionen und andere Gesundheitsgefahren erwähnt: Wenn die Nordischen Ölwerke wieder Katzen kochen und der Wind aus West kommt gibt es laut Behörde keine signifikante Häufung von Beschwerden, also muss auch nichts unternommen werden … Die massive Ballung von über hundert Betrieben mit Gefahrstoffen im Umkreis kommen oben drauf.
    Apropos Behörde: Der 70er-Jahre-Look-a-like-Bau der BSU aus der IBA-Goldgräberstimmung steht nach der Wahl und Splittung der Behörde zu großen Teilen leer. Platz für Geflüchtete im Winter? Fehlanzeige!

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