Eine Schule für alle: Hamburgs holpriger Weg zur Inklusion

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Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland 2009 dazu verpflichtet, behinderten Kindern den Besuch einer Grund- oder weiterführenden Schule zu ermöglichen. Statistisch schneidet Hamburg im bundesweiten Vergleich zur Umsetzung von Inklusion gut ab. Die Situation im Klassenzimmer zeichnet jedoch ein gegensätzliches Bild. 

Von Josefa Raschendorfer

Hamburg. Ein Getümmel von 400 Kindern. Sie schreien, toben, balancieren auf Baumstämmen und jauchzen auf der Schaukel dem Himmel entgegen. Dennis* jagt einem Fußball hinterher. Ein Junge aus der gegnerischen Mannschaft eilt ihm nach, greift an, grätscht nach dem Ball. Das nasse rutschige Gras tut sein übriges. Einen Moment bleibt Dennis ruhig am Boden liegen. Dann passiert es.

Die Wut kommt hoch.

Eine Horde Jungs versammelt sich aufgeregt um Andrea Wolf*. Sie trägt eine leuchtend orange Warnweste. Pausenaufsicht. „Frau Wolf, Dennis hat Marco* geschlagen“, sagt ein Blondschopf. Den Blick zu Boden gerichtet nähert sich Dennis der diskutierenden Schar, lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand des Schulgebäudes und verschränkt die Arme. „Pass nur auf, dass ich nicht gleich richtig ausraste“, zischt er Marco entgegen und ballt die rechte Hand zur Faust.

Hamburg auf dem dritten Platz

Das Schulgelände im Osten Hamburgs ist von grauen Plattenbauten mit roten und gelben Balkonen umgeben. In einem von ihnen wohnt auch Dennis. Er ist einer von über 8.000 Schülern in Hamburg, die in der Schulbürokratie als „LSE-Schüler“ bezeichnet werden. Das sind Kinder, die Schwierigkeiten beim Lernen (L), der Sprache (S), oder ihrer emotional-sozialen Entwicklung (E) haben. Mit 75 Prozent ist das die größte Gruppe, die seit Einführung des inklusiven Schulsystems in Hamburg die Möglichkeit hat, in einer allgemeinen Schule unterrichtet zu werden.

Im Schuljahr 2012/13 ging in Hamburg bereits fast jeder zweite Förderschüler auf eine Regelschule. Der Statistik zufolge steht Hamburg damit im bundesweiten Vergleich bei der Umsetzung von Inklusion auf dem dritten Platz. Bildungssenator Ties Rabe (SPD) ist mit der Entwicklung zufrieden: „Die 2010 gestartete Inklusion ist mittlerweile auf einem guten Weg. Im bundesweiten Vergleich sind unsere Schulen hervorragend ausgestattet.“

Bufdis statt qualifizierte Lehrkräfte

Im schulischen Alltag zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Lehrer klagen über fehlende Fachkräfte in den Klassen. Schüler wie Dennis stören den Unterricht häufig massiv, sind gewalttätig oder schmeißen vor Wut Tische um. „Für Kinder mit emotionalen Störungen oder gar psychischen Behinderungen gibt es nicht ausreichend Ressourcen“, sagt Gudrun Wolters, Schulleiterin der Grundschule An der Haake im Süden Hamburgs. Statt einer qualifizierten Lehrkraft bekämen diese Schüler meistens einen zusätzlichen Betreuer an die Seite: Häufig junge Menschen, die den Bundesfreiwilligendienst absolvieren. Sie seien „billiger als eine Lehrkraft, aber pädagogisch nicht ausgebildet“. So hätten die Schüler im Laufe der Grundschulzeit oft vier verschiedene Bezugspersonen, obwohl gerade diese Schüler dringend eine stabile Beziehung bräuchten.

Vor der Umstellung auf das inklusive Schulsystem hat Wolters Kollegium nach dem Modell der integrativen Regelklassen (IR) gearbeitet, das in Hamburg 1992 an 36 Grundschulen eingeführt wurde. Dabei wurden alle Kinder aus einem Einzugsgebiet bis zur vierten Klasse gemeinsam mit lern-, sprach- und verhaltensauffälligen Schülern unterrichtet, ohne dass diese anhand einer Diagnostik als solche „etikettiert“ wurden. Zur Zeit des IR-Modells stand den Schulen eine halbe Sonderpädagogenstelle pro Klasse zusätzlich zur normalen Lehrkraft zur Verfügung (Zwei-Pädagogen-Prinzip). „Das war angemessen“, sagt Wolters. Nun ist das anders.

Auf dem Weg zur Inklusion werden unheimlich viele ‚behinderte Kinder‘ produziert.
Babette Radke, Hamburger Bündnis für schulische Inklusion

Bei der Verteilung von Ressourcen, also die personelle Zuteilung von Pädagogen, die Regelschullehrer in den inklusiven Klassen mit ihrer Fachkompetenz unterstützen, unterscheidet die Politik zwischen Schülern mit speziellen Förderbedarfen und LSE-Schülern. Zur ersten Gruppe zählen unter anderem Schüler, die Schwierigkeiten beim Sehen, Hören, in ihrer körperlichen oder geistigen Entwicklung haben. Sie bekommen eine schülerbezogene Ressource, die anhand eines sonderpädagogischen Feststellungsgutachtens berechnet wird. Die LSE-Ressource hingegen wird nicht pro Schüler, sondern pauschal nach einem festen Schlüssel zugewiesen. Für jedes LSE-Kind können die Schulen rechnerisch 3,5 Unterrichtsstunden in der Woche mit einem zweiten Pädagogen besetzen.

Der Kampf um Ressourcen

Bisher ging die Politik von durchschnittlich vier Prozent LSE-Schülern in den Grundschulen und acht Prozent in den Stadtteilschulen aus. Tatsächlich diagnostizierten die Lehrer aber weitaus mehr Schüler mit LSE-Förderbedarf: Waren es im letzten Schuljahr vor Einführung der Inklusion noch 5.727, meldeten die Schulen im Schuljahr 2014/15 insgesamt 8.031. Bildungssenator Rabe erklärte, dies sei zum einen auf fehlerhafte Diagnosen und zum anderen auf ein verändertes Meldeverhalten der Schulen zurückzuführen.

Noch nie ist von Lehrern mit so viel Begeisterung der Stempel ‚Sonderpädagogischer Förderbedarf‘ verteilt worden.
Angela Ehlers, Behörde für Schule und Berufsbildung

„Die Schulen versuchen sich die Ressourcen zurückzuerkämpfen, die ihnen zu IR-Zeiten zustanden“, sagt Babette Radke, Sprecherin des Hamburger Bündnis für schulische Inklusion: „Lehrer diagnostizieren wild um sich herum, um ein paar Stunden Unterstützung wiederzubekommen.“ Das Absurde daran: „Auf dem Weg zur Inklusion werden unheimlich viele ‚behinderte Kinder‘ produziert“.

Angela Ehlers von der Behörde für Schule und Berufsbildung bestätigt das: „Noch nie ist von Lehrern mit so viel Begeisterung der Stempel ‚Sonderpädagogischer Förderbedarf‘ verteilt worden wie in den letzten fünf Jahren.“ Außerdem beobachtet sie einen „Wettbewerb um Kinder mit speziellen Behinderungen“. Schulen würden sich dadurch die schülerbezogenen Ressourcen abgreifen, die sie dann für die LSE-Kinder einsetzten. Ein Kind mit einer Lernschwäche wird somit schnell zu einem geistig behinderten Kind – und schon hat die Schule mehr Ressourcen.

Rot-grüner Senat reagiert mit neuer Diagnostik

Der rot-grüne Senat einigte sich deshalb darauf, nun jedes Jahr die tatsächliche Zahl der LSE-Schüler zu ermitteln – mit einem standardisierten Diagnoseverfahren. „Wir stellen mit dem neuen Zuweisungsverfahren für die Stadtteilschulen zugleich eine genauere und bedarfsgerechtere Personalausstattung sicher“, so Bildungssenator Rabe.

Karl Dieter Schuck, Professor der Schul- und Behindertenpädagogik an der Universität Hamburg kritisiert, das Diagnoseverfahren habe „mehr Fehler als positive Effekte“. Neben dem Mehraufwand für die Schulen sei die damit verbundene Stigmatisierung der Kinder konträr zum eigentlichen Inklusionsgedanken. Auch die Lehrerkammer bewertet das Diagnoseverfahren, das unter anderem auf standardisierten Leistungs- und IQ-Tests basiert, als „pädagogisch sinnlos“. Es handle sich dabei um ein „bloßes Instrument der Steuerung von Ressourcen“, das das einzelne Kind „förderdiagnostisch nicht einen Schritt weiter bringt.“

„Ein Tropfen auf den heißen Stein“

Weiter kündigte der Senat an, den Grund- und Stadtteilschulen 120 zusätzliche Lehrstellen für die Inklusion zur Verfügung zu stellen. Sabine Boeddinghaus Fraktionschefin der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft, nennt das einen „Tropfen auf den heißen Stein“. Die Berechnung sei „willkürlich und nicht ausreichend“, so Boeddinghaus. „Wir haben eine Haushaltspolitik, wo sich die Bedarfe nach den Ressourcen richten und nicht die Ressourcen nach den Bedarfen.“ Sie fordert die Rückkehr zum Zwei-Pädagogen-Prinzip nach Vorbild des IR-Modells.

Das verlangt auch der Hamburger Landesverband Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): Berechnungen zufolge seien dafür 550 zusätzliche Lehrerstellen nötig, sagt Sven Quiring, Vorsitzender der Fachgruppe Sonderpädagogik bei der GEW. Er habe zudem „massive Bedenken“, dass die angekündigten 120 Stellen tatsächlich neu hinzukommen. „Es konnte uns bisher keiner dezidiert sagen, dass diese Stellen wirklich neu in den Haushalt eingepflegt sind“, so Quiring. Nach Untersuchung von Papieren der Personalorganisation des Senats komme die GEW zu dem Schluss, dass die Stellen aus dem auslaufenden Bedarf des letzten IR-Jahrgangs kostenneutral querfinanziert würden.

Schlechtere Betreuung mit dem Stempel „Inklusion“

„Was wir hier machen, hat mit Inklusion noch nichts zu tun“, sagt Babette Radke vom Inklusionsbündnis. Bei dem „großen Chaos“ um LSE-Schüler würden auch die Kinder mit speziellen Förderbedarfen auf der Strecke bleiben. So wie ihre Tochter. Sie hat das Down-Syndrom und wird im kommenden Schuljahr auf die Stadtteilschule Winterhude gehen. Mit dem ehemaligen IR-Modell hatte Radke gute Erfahrungen gemacht. Wenn der Wille und ausreichend Ressourcen da seien, könne der gemeinsame Unterricht gut funktionieren. Im Zuge der Inklusion sei die Betreuung nun aber schlechter geworden. Unter diesen Umständen beobachte sie eine zunehmende Tendenz der Eltern, für ihre Kinder doch lieber „das entspannte Leben auf der Förderschule“ zu bevorzugen.

*Name von der Redaktion geändert

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1 Kommentar

  1. Michael den Hoet

    19. September 2015 at 16:57

    Statt PR-Sprüche zu klopfen sollte Senator Rabe lieber seine Hausaufgaebn machen. Tatsächlich muss ich in der Grundschule meines Sohnes feststellen, dass behördliche Zusagen bislang nicht in ausreichendem Maße eingehalten werden: Es sind im neuen Schuljahr Klassen mit LSE-Kindern gestartet. Die versprochenen und für einen reibungslosen Unterricht notwendigen Assistenz-Arbeitskräfte sind noch nicht bewilligt; man vertröstete die Schulleitung auf „hoffentlich nach den Herbstferien“. Pädagogen aus der Nachmittagsbetreuung beklagen, dass es gelegentlich zu präkären Situationen kommt und die Aufsicht für die Kinder nicht immer gewährleistet werden kann, z. B. wenn ein LSE-Kind Hilfe beim Toilettengang benötigt.

    Ein gefährlicher Zustand – aber vor allem: absolut vermeidbar. Eigentlich!

    Mit Deutsch-Lehrkräften für Flüchtlingskinder in den ersten Klassen verhält es sich übrigens ebenso.

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