Politik

Auslandstagebuch: Keeping Jerusalem from Racism

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Carolin Wendt

Redakteurin | Dipl.-Psychologin | wendt@hh-mittendrin.de | blog: http://lexy04.wordpress.com/

Auf und davon: Unsere Redakteurin Carolin Wendt hat den Bezirk, die Stadt und Deutschland hinter sich gelassen und entdeckt gerade Jerusalem. Auf ihrem Blog schreibt sie darüber, wie sie die derzeitgen Ausschreitungen dort erlebt.

Ich komme vom Supermarkt. Die Ampel ist rot. Ein grüner Egged-Bus fährt vorbei. Es sind 37 Grad. Auf dem Bus steht in weißen, großen Buchstaben: „Bring back our boys“. Ihre drei Jungs sind tot, und vor vier Tagen beerdigt worden. Ich gucke auf mein Handy. Mein Bekannter Tzach ist auf dem Weg zur Uni, der durch Ost-Jerusalem führt. Dort fliegen in den letzten Tagen Steine, Molotowcocktails und Brandsätze. Er hat sich noch nicht gemeldet.

Straßen und Gedanken blockiert

In den letzten Wochen habe ich das ein oder andere Mal angesetzt, etwas zu schreiben: Über die Hochzeit, auf der ich war, über die Hitze, die alle Gedanken lähmt, darüber wie wir hier die WM miterleben, über das Lichterfest in der Altstadt. Aber immer nur halbherzig. Denn neben dem gelebtem Alltag sind es die Ungewissheit und die Wellen des Hasses aus allen Richtungen, die mich in den letzten Wochen beschäftigen. Aber es ist nicht einfach, darüber zu schreiben. Weil es schwer ist, einen klaren Kopf zu bewahren. Weil sich jedes Handeln hier auch in seinem Negativ denken lässt: Kein Weiß, kein richtig, das nicht auch Schwarz, nicht auch verwerflich sein kann. Weil ich ambivalent bin. Weil die Ereignisse direkt nebenan geschehen, und für mich doch nur medial und in Gesprächen omnipräsent sind.

25 Tage – von der Entführung bis zu den Straßenkämpfen heute

Am 12. Juni habe ich auf Facebook in einem Post gelesen, dass drei israelische Jugendliche in der Westbank entführt wurden. Zwei Tage später gab es die Nachricht dann auch in den deutschen Medien, allerdings wurden aus den Jugendlichen dort durchgehend „Siedlerkinder“. Waren sie nicht, war nämlich nur einer. In den darauf folgenden 18 Tagen kam es in der Westbank zu einer groß angelegten Suchaktion und Verhaftungswelle. Hebron wurde für mehrere Tage fast vollständig abgesperrt. Gleichzeitig wurde in Israel die Kampagne #bringbackourboys gestartet, bei der Solidarität mit den Familien der Entführten und die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr der drei Teenager ausgedrückt werden sollte. Auf Facebook gab es täglich Updates, auch die deutschen Medien haben sich mit Meldungen und Meinungen nicht zurück gehalten.

Am 30. Juni wurden die Leichen der Drei bei Hebron in der Westbank gefunden. Einen Tag später wurden sie in Modi’in beigesetzt. Die Beerdigung wurde via Live-Stream übertragen. Am gleichen Abend ist ein Mob radikaler, rechter Juden durch die Neustadt gewütet, hat Passanten mit dunkler Haut nach der Uhrzeit gefragt, um ihren Dialekt herauszuhören und hat Araber angegriffen. Einen Tag später, am 2. Juli wurde die Leiche eines palästinensischen Jugendlichen in Jerusalem gefunden. Wer der Mörder ist, steht noch nicht fest: Entweder es war ein Racheakt radikaler Israelis oder ein Mord eines anderen arabischen Clans oder das Motiv war, dass der Junge schwul war. Seitdem der Junge beerdigt wurde, kommt es zu Ausschreitungen und Straßenkämpfen in Ostjerusalem und im Norden des Landes.

Am Mittwoch, am 2. Juli, also einen Tag nachdem rechte Juden in der Innenstadt Araber angegriffen haben, gab es dort eine große Demonstration für ein friedliches Zusammenleben. „Keeping Jerusalem from Racism – going to the center city to keep the quiet.“ Am Donnerstag bin ich diesem Facebook-Aufruf gefolgt und Abends mit rotem T-Shirt in die Innenstadt gefahren. Dort haben sich Freiwillige in kleinen Gruppen zusammengeschlossen und sind durch die Stadt gegangen, um der Polizei eventuelle Übergriffe auf Araber zu melden. Um uns untereinander zu erkennen, haben wir die roten T-Shirts angehabt. Die Cafés waren gefüllt, Touristen haben Eis gegessen, Straßenmusiker haben Gitarre gespielt und gesungen. Außer dass an diesem Abend überall Polizisten zu sehen waren, ist mir nichts Außergewöhnliches aufgefallen.

Keeping Jerusalem from Racism, and your Heart from Hate

Ich lese seit der Entführung über die Reaktionen beider Seiten. Ich lese die offiziellen Statements von sämtlichen israelischen Ministern, der Fatah, der Hamas. Dass im Gaza-Streifen Süßigkeiten in den Tagen nach der Entführung verteilt wurden. Feiertage, weil dem Feind Schaden zugefügt wurde. Sehe die Freude der Palästinenser über die Entführung, eine Geste: Sie halten drei Finger in die Kamera und strahlen dabei. Vom kleinen Mädchen im rosa Kleid bis zum zahnlosen alten Mann. Ein Foto auf Facebook zeigt eine ganze Schulklasse, alle lachen und halten die drei Finger in die Höhe. Im Hintergrund ist der Goldene Felsendom. Und dann die Rufe nach Rache nachdem die drei Jungen gefunden wurden. Eine Facebook-Seite, die gegen Araber hetzt, wurde gegründet und hat innerhalb weniger Tage 32.000 Likes bekommen – sie wurde gesperrt und gegen einige der Hetzer wird ermittelt. Nun die Straßenkämpfe. Und der tote Junge. Seine Mutter hat eine hasserfüllte Trauerrede gegen Juden gehalten. Noch gibt es Ermittlungen darüber, wer ihn umgebracht hat. Für viele Palästinenser ist aber jetzt schon ein Märtyrer.

Das Bild der Medien ist kein Spiegelbild des Alltags

All das ist nebenan spürbar. In den Medien diese Verallgemeinerungen: Die Araber, Juden, Israelis, Palästinenser, Schuldzuweisungen, Negativschlagzeilen. Brennende Straßen, einer hasst den anderen. Und im Alltag? Im Alltag hier sind zwei Dinge sehr deutlich zu spüren. Zum einen, dass es sich nur um vereinzelte jüdische Israelis handelt, bei denen der Hass in den letzten Wochen geschürt wurde und sich nun in Rassismus oder Gewalt äußert. Zum anderen ist es Resignation. Einige meiner Freunde meiden Nachrichten, sie wollen nichts hören von der Gewalt, den Drohungen und Aufrufen. Selbstschutz. Und auch als die Drei gefunden wurden, herrschte hier keine Staatstrauer. Die meisten waren im ersten Moment geschockt. Auch ich war es. Trotzdem, als an dem Abend das Spiel Deutschland gegen Algerien lief, haben wir es in einer kleinen Bar geguckt. Mit uns viele andere. Bisher alle haben den in der Innenstadt wütenden Mob radikaler Israelis als dumm und rassistisch verurteilt. Drei Freunde fliegen diese Woche nach Europa in den Urlaub. Sie sind froh, eine Auszeit von dieser angespannten Lage zu haben. Es ist immer noch Asmi aus Ramallah, der im Gästehaus neben meinem Praktikumsplatz täglich die Betten macht, und mit uns an einem Tisch zum Teammeeting sitzt. Und die meisten Gespräche sind über andere Themen: Arbeit, Hitze, Fußball, Sesamstraße, das Leben.

Es ist nicht die Mehrheit, sondern extremistische Minderheiten, die es schaffen, zu entzweien, Angst und Hass zu schüren. Zu leise sind die Stimmen derjenigen, die ein friedliches Zusammenleben wollen. Zu selten fallen Sätze wie die der Mutter des getöteten Israelis Naftali Frenkel: „There is no difference between Arab blood and Jewish blood. Murder is murder.” Und Leben ist Leben. Ich halte mich seit dem Beginn der Ausschreitungen von der Altstadt fern, und auch auf Public Viewing habe ich bei den Viertelfinal-Spielen verzichtet. Mein Handy piept: „2 neue Nachrichten“: „I’m fine.“ und „enjoy your day“. Tzach geht es gut. Er war sowieso aufgeregter wegen der Klausur, die jetzt ansteht als wegen des Weges. Ich nicht.

Ihr habt den Anfang von Caros Reise verpasst? Hier könnt ihr nachlesen, was sie bisher erlebt hat.

Hier geht´s zu Caros Blog.

Foto: Carolin Wendt

Kommentare anzeigen (1)

1 Kommentar

  1. Christian

    7. Juli 2014 at 21:20

    Toller Blog, endlich erkenne ich das Israel wieder, dass ich damals besucht habe …

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