Kultur

Kolumne Wahnsinnsstadt: „Königin der Löwen“

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Jan Freitag

Freier Journalist und Autor | Blog: http://freitagsmedien.com/ | Schreibt bei Mittendrin über die "Wahnsinnsstadt" Hamburg und den wöchentlichen TV-Dschungel

Gut, Hamburgs Clubkultur ist nicht mehr, was sie mal war. Trotzdem lockt sie Menschen aus aller Welt an einen Ort, den das Ausland sonst eher mit Hackbrötchen in Verbindung bringt. Nur das Stadtmarketing feiert sich lieber weiter als Musicalstandort.

Veröffentlicht am 10.06.2014

Um das kulturelle Wesen einer Stadt zu ergründen, lohnt sich oft der Blick über Tellerränder, die verteufelt weit weg liegen. Zum Beispiel nach Israel. Dieses Land mit mehr Geschichte als jedes andere und einer beispiellos faszinierenden Gegenwart wirbt zurzeit in deutschen Zeitungen um Urlaubsgäste. Doch ausgerechnet Israel tut das nicht durch den Schmelztiegel der Weltreligionen oder den weltpolitischen Thrill, sondern mit – Musik. Genauer: Live-Musik. „Sei dabei“, heißt es in der poppig aufgemachten Kampagne. Bei Justin Timberlake, Prodigy und Soundgarden, den Pixies, Neil Young oder Lana del-Rey. Und jetzt stellen wir uns mal vor, so rein hypothetisch, die Stadt Hamburg würde andernorts um Besucher werben. Was stünde da wohl über „Sei dabei“? Richtig: König der Löwen. Tarzan. Und Rocky. Toll!

Für diese Prognose muss man sich nur mal den Wikipedia-Eintrag zur Hansestadt anschauen. Unterm Stichwort „Kultur und Veranstaltungen“ führt das Online-Lexikon, dem ohne Zweifel auch Mitarbeiter vom Hamburg-Marketing Informationen zutragen, zwar drei umfangreiche Absätze zum „weltweit bedeutenden Musicalstandort“, aber nicht eine einzige Zeile über das, was Hamburg wirklich besonders macht im nationalen, ja globalen Vergleich: Ihre Clubs, die Reste des Underground, Graswurzelkultur. Dafür muss man dann schon ins Unterkapitel Kultur gehen – wo die O2-Arena auf der Liste regionaler Veranstaltungsräume allerdings ganz oben rangiert.

Jungessellenabschied und Pauschaltourismus

Das belegt aufs Neue, wie ignorant das Stadtmarketing mit seiner dramaturgisch wohl wertvollsten Ressource umgeht. Wie ignorant vor allem die persönlich Verantwortlichen sind, denen jeder im Reisebus dahergekarrte Musicalgäste mit Doppelzimmer im Budgethotel und Shoppingbudget am Souvenirstand tausendmal lieber ist als diese konsumverweigernden Schmuddelfans alternativer Gegenwartskultur mit Astraknolle am Hals. Der Beatles-Platz am Nobistor ist fürs Hochglanz-HH das Maximum independenter Anteilnahme und selbst dessen Genehmigung brauchte ein Vielfaches dessen, was zuständige Behörden üblicherweise an Zeit benötigen, um den Abriss lobbyloser Räume vom wunderbaren Phonodrom-Komplex übers alte Knust bis hin zu den Essohäusern freizugeben.

Kurzum: die offizielle Propaganda tut hierzubundeslande im Zweifel alles, um den Popstandort seiner Alleinstellungsmerkmale zu berauben. Auf der staatstragenden Website www.hamburg.de etwa wird vom Junggesellinnenabschied über die Luxuslinerdurchfahrt bis hin zum Pauschaltourismus schon auf der Startseite gepriesen, was der Ballermannisierung der Vorschub leistet. Von einem der Dutzenden Konzerte jeder Nacht dagegen steht dort ebenso wenig auch nur die kleinste Silbe wie vom weltbewegenden Kunstprojekt Gängeviertel oder der bedeutenden Gründerzeitarchitektur, solange die noch nicht vollends durch gesichtslose Bullaugenbauten ersetzt wurde.

Aber das ist womöglich auch kein Wunder. Hamburgs zuständige Kultursenatorin heißt schließlich Barbara Kisseler, wuchs in einer Ära auf, als außer Schlager oder Klassik alles „Nigger-Jazz“ mit germanisch hartem „ZZ“ hieß und die kreuzbraven Beatles fürs Bürgertum Ausgeburten der Gammlerhölle waren. Off-Art dürfte sich für diesen Schlag Kulturverweserin in einem Countertenor an der Staatsoper erschöpfen. Und von der Liste jener Konzerte, mit der drei israelische Städte gerade um auswärtige Besucher werben, kennt Kisseler wohl bestenfalls Paul Anka. Ach ja – und vielleicht noch Lady Gaga, jener Topstar vom modernen Line-up der Marke Nahost, der für Hamburgs offizielles Kulturverständnis steht wie sonst nur einer: Der König der Löwen.

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Kommentare anzeigen (5)

5 Kommentare

  1. Karl

    10. Juni 2014 at 12:01

    Stimmt! Es ist so traurig. Hamburg tut alles um Innovationen im Weg zu stehen. Immer und überall.

  2. Theresa Jakob

    11. Juni 2014 at 04:00

    Zu dieser Provinzialität passt die Idee der Tourismusmanager uns mit einer Seilbahn beglücken zu wollen. Dann is nimmer seit bis dysneyworld in Hamburg Deshalb mit NEIN stimmen beim Bürgerentscheid im August. Infos unter http://www.keine-seilbahn.de und mithelfen den Irrsinn zu verhindern keineseilbahn@gmx.de

  3. Mirco

    11. Juni 2014 at 08:43

    Euch ist schon klar, dass jeder Wikipediaeintrag von irgendwem geschrieben und von jedem editiert werden kann, oder? Wenn einem ein Eintrag nicht gefällt oder zu ungenau erscheint, dann ist man in der Lage ihn entsprechend abzuändern.

  4. Fran Kee 【Ƿ】

    11. Juni 2014 at 11:10

    Ist Barbara „Vattenfall“ Kisseler überhaupt schon wieder als Kultursenateuse verfügbar?

    Ich dachte, der Vertrag mit Vattenfall läuft noch ein paar Jahre? (Hab da sowas aus der SPD-Fraktion im Bezirksamt Mitte gehört…)

    Für atomstromfreie Literatur hat die Dame jedenfalls (im Gegensatz zu Konstantin Wecker, Jan Delay, Jan Plevka, Frank Schätzing, …) seit Jahren „leider keine Zeit“.

  5. Manu

    15. Juni 2014 at 15:10

    Auch du bist Wikipedia – oder kannst es sein, wenn du willst 😉

    Ganz spontan musste ich bei dem Artikel auch an die „anders reisen“-Reihe des Rowohlt-Verlages denken, die es vor einigen Jahren gab. Vielleicht kann die mittendrin-Redaktion etwas ähnliches (z.B. online) auf die Beine stellen?

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