Stadtgespräch

Auslandstagebuch Israel: Die Sache mit der Pünktlichkeit

Stadtgespräch
Carolin Wendt

Redakteurin | Dipl.-Psychologin | wendt@hh-mittendrin.de | blog: http://lexy04.wordpress.com/

Auf und davon: Unsere Redakteurin Carolin Wendt hat den Bezirk, die Stadt und Deutschland hinter sich gelassen und entdeckt gerade Israel. Auf ihrem Blog schreibt sie über ihre Erlebnisse. Heute wundert sie sich über die israelische Pünktlichkeit und bekommt einen Eindruck von Protesten gegen die Wehrpflicht.

Eine Freundin hat am Sonntag in Hamburg rund 200 Demonstranten mit Kippa auf dem Kopf gesehen, erzählt sie mir am Telefon. Sie hat sich erkundigt, warum sie demonstrieren und gehört, sie protestierten wegen der Orthodoxen in Jerusalem. „Hast du was davon mitbekommen? War da ne Demo?“ Ehm, ja, hab ich aus der Ferne. Ich bin in Tel Aviv gewesen und wollte am Sonntagabend zurück nach Jerusalem. Das ging aber nicht. Wegen der Demo wurden alle Zufahrtsstraßen nach Jerusalem für mindestens sechs Stunden gesperrt. In Jerusalem fuhren wohl vereinzelt Busse, aber größtenteils ging gar nichts mehr. Befreundete Studenten haben erzählt, sie hätten den ganzen Tag an der Uni festgesessen, viele konnten nicht zur Arbeit und der Protest sei überall zu hören gewesen. Eine halbe Million orthodoxe Juden waren hier, um gegen einen Gesetzesentwurf zu demonstrieren. Bisher sind sie von der Wehrpflicht (Drei Jahre Männer, Zwei Jahre für Frauen) ausgenommen, das neue Gesetz soll dies ändern. Viele säkulare Juden wünschen sich mehr Gleichheit, während sie zum Militär müssen und durch ihre Arbeit die Orthodoxen mit finanzieren, dürfen diese sich ganz dem Studium der Thora widmen, und müssen auch keine Steuern zahlen. Auf der Demo wurden keine Reden gehalten oder Parolen geschrien, sondern gemeinsam gebetet. Diesen Freitag soll es einen weiteren Massenprotest geben, nur dass  dann ausschließlich orthodoxe Frauen auf die Straßen gehen werden.

Während in Jerusalem also demonstriert wurde, habe ich einen Tag in Tel Aviv verbracht. In Tel Aviv gibt es keine Straße, die nicht viel befahren ist, es ist also laut. Das machen die Wärme (mindestens 10°C mehr als in Jerusalem), das Flair (als wäre immer Urlaub), das Angebot an Eis und Eisshakes und der Strand und der Strand und der Strand aber wieder wett.

Tandempartner und die Sache mit der Pünktlichkeit

An die Sache mit der Pünktlichkeit hab ich mich noch nicht gewöhnt. Wenn wir uns zum Championsleague gucken verabreden, erreichen wir die Bar pünktlich bei Anpfiff der 2. Halbzeit (und sehen nur noch der Tragödie zweiter Teil, Schalke gegen Real). Wenn wir um 13 Uhr Mittag essen gehen (wollen), essen wir um 15 Uhr. Wenn sieben Leute zusagen, sich das WG-Zimmer anzugucken, kommt eine pünktlich (Deutsche), zwei viel zu spät und der Rest gar nicht. Und gestern habe ich mich mit einer Gruppe Studenten verabredet, die sich einmal im Monat fest trifft, um sich über ihre Religion auszutauschen. Gestern wollten sie verschiedene Krankenhäuser (ein christliches, eines in der Westbank und eines in Jerusalem) besuchen und ich wollte teilnehmen und sie für ein kleines Projekt hier interviewen. Der Weg dorthin war eine Stunde mit dem Bus. Das Treffen wurde erst eine halbe Stunde nach hinten verlegt, dann der Besuch der Krankenhäuser abgesagt und nach einer weiteren Stunde war die Gruppe laut Koordinator dann vollzählig: Ein Teilnehmer, mein Freund Tzach, der mich abholen wollte und ich.

Pünktlich war meine erste Tandempartnerin Shachar vorletzte Woche. Weil ich Hebräisch bisher nur mit einem Buch lerne, und man sich mit einem Buch nicht so gut unterhalten kann, habe ich mich mit Israelis getroffen, die Deutsch lernen. Und Shachar hat mir erzählt, warum deutsche Juden hier Yeke genannt werden: Weil Deutsche als stur gelten, ihre Gewohnheiten nicht ablegen können und zum Beispiel auch hier in Israel bei sommerlichen Temperaturen Jacken tragen (hebr.: Yaket). Wenn ich lese, was ich oben grad geschrieben hab, bin ich das wohl auch.

Getroffen habe ich mich bisher also mit Shachar, die in Argentinien und Brasilien gelebt hat und mit Efi, dessen Eltern aus der Ukraine und Polen kommen. Und manchmal kommt es zu Momenten, in denen ich erst mal nicht weiß, was ich sagen soll. Da erzählt mir Shachar, dass sie in der Gedenkstätte des KZ Sachsenhausen freiwillig arbeiten möchte. Efi, dass er im größten Shoa-Museum die Familiengeschichten von ermordeten Juden digitalisiert. Als ich gesagt habe, wo ich herkomme, wurde mir bisher zweimal entgegnet: „Oh ich kann auch ein bisschen Deutsch, meine Großeltern sind in Deutschland geboren worden.“ Da liegt es nahe, warum die Großeltern Deutschland verlassen haben. Trotzdem, sie erzählen es, als hätte es keinen Bezug zu mir und ich antworte so, als hätte es keinen. Zumindest meistens.

Und es ist auch neu, die Sicht von außerhalb auf das Deutschland von heute mitzubekommen. Viele hier schwärmen von Deutschland, so wie Shachar: Berlin, Hannover, von dem Lebensgefühl, der Ordnung, dem vielen Grün, der Kultur, den Bauten, den Bahnen und den freundlichen Menschen. „Die Deutschen sind so pünktlich, nur die Bahn ist es nicht.“ Genau das (auch das mit der Bahn), höre ich öfter. Deutschland hat so viel Natur, Schnee, man ist freier, kann Geld verdienen und sparen.

Und was erzählt mir Efi? „Mein Family gewesn aus Ukraine un Poln. Ikh komm aus eener ortdoxn Famil un deetsch hab ikh egentlik nie glernt.“ Aber seine Familie spricht Yiddisch, das von Juden untereinander im deutschsprachigen Raum früher gesprochen wurde. Als die Juden im Mittelalter verfolgt wurden, hat sich Yiddish in Europa verbreitet. Einmal sei er in Düsseldorf gewesen: „Un dee Leut verstandn, all was gsagt.“ Es klingt wie ein Niederländer, der sich in Deutsch versucht, irgendwie nach Kauderwelsch, aber deutsch. So ist das Tandem eine gute Sache, vor allem weil ich eigentlich nur hier wirklich Hebräisch spreche und ich Wörter wie chedek (Rüssel) und pischpesch (Wanze) gelernt habe – und dass Flohmarkt Wanzenmarkt (shuk pischpesch) heißt.

Ihr habt verpasst was Caro in Israel macht? Das könnt ihr hier nachlesen.

Hier geht es zu Caros Blog.

Foto: Carolin Wendt

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