Vor mehr als 100 Interessierten Gästen sprach der Direktor des Italienischen Flüchtlingsrates (CIR) Christopher Hein über den rechtlich am wenigsten beachteten Teil einer Flucht – den Fluchtweg.
„Das deutsche Wort Flüchtling leitet sich vom Wort Flucht ab und legt das Augenmerk damit auf das Verlassen eines Landes“, beginnt der Direktor des Italienischen Flüchtlingsrates Christopher Hein, der auch elf Jahre für die Vereinten Nationen arbeitete, seinen Vortrag im Hamburger Institut für Sozialforschung. In anderen Sprachen werde hingegen das Ankommen betont. Refugee, réfugié, rifugiato seien wörtlich vom Wort „Zuflucht“ abzuleiten. Der Schwerpunkt an diesem Abend liegt jedoch weder beim Verlassen noch bei der Ankunft, sondern auf dem, was dazwischen passiert: dem Fluchtweg. Dabei trennten nicht nur Meere und Wüsten in Not-Geratene von Zufluchtsländern: „Was die Flüchtlingspolitik betrifft, befinden wir uns im Mittelalter“, stellt Hein klar. Gemeint sind damit Gräben, Mauern und Zäune um Staaten und Regionen, von Menschenhand erschaffen, wie bei den mittelalterlichen Festungen.
Seit 1993 sind rund 20.000 Bootsflüchtlinge im Mittelmeer umgekommen. Besonders tragisch sei, dass oft der Moment der Hoffnung den Flüchtlingen zum Verhängnis wird, berichtete Hein. Das Marineboot am Horizont – der Funken Hoffnung nach tagelanger Reise auf See, teils ohne Sprit, Nahrung und Wasser – führe schnell dazu, dass Flüchtlinge sich auf eine Seite des Bootes drängen, wodurch dieses kentert. Auch auf Verbesserungen wies er hin: So genannte Push Backs – das aktive Zurücktreiben von Flüchtlingsbooten – sind mittlerweile durch ein Urteil des europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verboten. Außerdem gibt es Resettlement-Programme, so erklärte sich Deutschland zuletzt bereit 5000 Syrer aufzunehmen.
Oft gehe die Flucht auf dem Festland weiter, wenn Betroffene versuchen, dem Asylverfahren im Land ihrer Ankunft zu entrinnen, in dem sie Laut Dublin-Verordnung bleiben müssten, auch nach erfolgreicher Antragstellung. Doch wem nützte es, wenn ein Flüchtling anerkannt wird und in Italien bleiben muss, ohne Hab und Gut, soziale Netze und sozialen Leistungen während Verwandte in Schweden auf ihn warten und bereits Wohnraum zur Verfügung hätten? 90% aller Asylbewerber seien heute zur irregulären Einreise nach Westeuropa gezwungen. Als schlicht „ineffizient“ bezeichnet Hein diese Effekte der Flüchtlingspolitik.
Eine Lösung könne nur sein, den Fluchtweg durch ein Verfahren zur geschützten Einreise zu sichern und die Freizügigkeit innerhalb Europas für Angekommene auszuweiten, um besser individuelle Lösungen zu finden. So sollte die Möglichkeit bestehen, einen Asylantrag zu stellen, auch ohne physisch im Asylland anwesend zu sein. Einige Staaten wie Frankreich, Dänemark oder Spanien haben mit der Möglichkeit der Asylantragstellung in ihren diplomatischen Vertretungen in Drittländern schon Erfahrung – eine wirkliche Lösung könne laut Hein aber nur auf gesamteuropäischer Ebene funktionieren. Seit 2002 werden solche Maßnahmen in der EU-Kommission diskutiert.
Das Publikum war in der anschließenden Fragerunde sehr an der Meinung von Christopher Hein zur Situation der Hamburger Flüchtlingsgruppe Lampedusa in Hamburg interessiert. Mit ihnen stehe Hein in Kontakt, über konkrete Lösungsansätze sei noch zu reden. Er bezeichnet die Mitglieder der Gruppe und viele andere Geflohene als „Libysche Flüchtlinge ohne Libyer zu sein“. Wenn ihr Ziel in Libyen auch das Arbeiten war, um Geld zu ihren Familien in andere afrikanische Staaten zu schicken, so hatten sie während der Umstürze 2011 keine andere Wahl als zu fliehen, um möglichen Massakern zu entgehen. Eine Flucht sei nie eine Wahl. Eine Lösung könne jedoch im Dialog entstehen.
Informationen zu weiteren Vorträgen der Reihe „Unwahrscheinliches Ankommen“ gibt es hier: http://www.his-online.de/veranstaltungen/vortraege-und-diskussionen/
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